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Grenzwertig-Tour - Der Südosten. Teil 5: Sentiero Alpino Calanca bis zum Luganersee

 


 

9. August 2022. Bei strahlendem Sonnenschein und dröhnendem Motorenlärm starte ich um 11 Uhr auf dem Bernardino-Pass zum Sentiero Alpino da Calanca. Hübsche Steintürmchen geben einen ersten Eindruck von der kommenden Felslandschaft. 

 





Nach etwa einer Stunde wird der Strassenlärm endlich leiser und der Höhenweg bietet fantastische Ausblicke aufs Misox. Nach einer Weile fast flachem Dahingleiten steigt der Weg auf eine kleine Hochebene voller winziger Seen und sich windender Wasserläufe. Hoch über mir schwebt ein Bartgeier. Als ich vom ersten Pass des Tages absteige, wedelt plötzlich eine kleine Kreuzotter vor mir weg - Mist aber auch, schon am ersten Tag! Ich habe schon gehört, dass es hier recht hohe Schlangendichte gibt für Schweizer Verhältnisse, aber wär jetzt nicht nötig gewesen... Weiter unten werde ich aber gleich wieder mit dem nächsten herzigen Tier beglückt, so dass mein übervorsichtiges Durch-die-Wiese-Staksen bald vergessen ist. 


 


Auf dem Pass di Passit weidet eine Herde Hochlandrinder, mit allerherzlichsten, kuscheligen Jungtieren - und wachsamen, langhörnigen Mamas sowie einem riesigen Stier. Daher mache ich einen grossen Bogen, auch wenn es alles sehr idyllisch wirkt, wie die Kühe da im See die Hufe kühlen. Der Aufstieg zum Pass de la Cruseta ist schnell geschafft, herrliche Aussicht im schönsten Abendlicht! Hinten runter ist allerdings Konzentration gefragt, an Ketten geht es kurz fast senkrecht über die Felsen runter. 


 

Danach ist es nicht mehr weit bis zum Rifugio, nur noch ein bisschen Ausdauer und ein paar knifflige Hochsicherheitszäune (inklusive unter Strom stehendem Gatter) gilt es zu überwinden. Kurz vor dem Rifugio treffe ich dann auch auf die so gut geschützte Schafherde und natürlich den dazugehörigen Hunden. Der Chef kommt natürlich, mustergültig wie es sich für einen diplomierten Herdenschutzhund gehört, ungesehen von hinten und bellt mir kurz ein halbes Herzchriesi in die Unterhosen, bevor er einmal an meinem Rock schnüffelt, gähnt und dann Yoga macht (den Downward facing dog natürlich 😉). Guter Hund!


 

Jetzt bin ich gleich beim Rifugio Pian Grand und treffe dort auf Rahel aus Fribourg, die die gleiche Tour macht wie ich und bereits mit drei Herdenschutzhunden Bekanntschaft gemacht hat (einer hat ihr fast auf den Rucksack gepieselt). Wir kochen unser Abendessen und setzen uns dann raus hinter die Hütte für ein paar letzte Sonnenstrahlen, während wir uns von unseren Wanderabenteuern erzählen. San Bernardino-Passhöhe - Rifugio Pian Grand, 19 km 


 

10. August 2022. Der Wecker klingelt früh, denn die nächste Etappe zur Buffalora Hütte sei lang, steht im Rifugio (und auch auf dem Wegweiser). Aus dem Tal wabert der Nebel hoch, aber die Sonne drückt ein bisschen durch. Ich muss dann doch noch die schöne Morgenstimmung vor der Hütte geniessen, und komme erst um halb acht los. 



 

Den ersten Aufstieg kenne ich schon, über grosse Felsblöcke geht es hoch zur Cresta Bedoleta, dann steil an Kettenpassagen hinten runter. Die Aussicht von dort oben ist der Hammer, der Abstieg allerdings auch - für Knie und Nerven. 


 


Bald bin ich auf der Alp Trescolmen. Das ist nun das dritte Jahr in Folge, dass ich auf dieser schönen, wilden Alp bin. 2020 mit Sven hier biwakiert, 2021 auf der Via Alpina überquert und heute laufe ich endlich weiter auf dem Sentiero Alpino. Aus dem Bad im See wird wieder nichts, denn es ist kühl und neblig. Der Weg windet sich hoch über dem Calanca-Tal am steilen Hang entlang, dazwischen gibt es immer mal wieder kurze Ketten- und Kletterpassagen. 

 



Das Wetter ist heute wankelmütig, die Sonne scheint immer nur kurz, dann wird es gleich heiss, fünf Minuten später ist es wieder kalt und neblig. Der Weg wird immer luftiger, hier ist nix mehr mit vor sich hin träumen beim Laufen, Konzentration ist gefragt. Aber ich finde eine herrliche Klippe mit Aussicht für mein Picknick. 


 



Gegen zwei Uhr bin ich am Rifugio Ganan, doch nun sind es "nur" noch drei Stunden bis zur Capanna Buffalora, ich fülle meine Wasserflasche und ziehe weiter. Aber die letzten Kilometer ziehen sich dahin, ich bin langsam kaputt. Noch ein Pass, noch ein paar abenteuerliche Schründe zu überqueren. Endlich sehe ich die Hütte, aber es ist immer noch über eine Stunde - und ich werde noch zweimal nass, kurze Regengüsse platschen unverhofft vom Himmel, obwohl die Sonne scheint. Am hübschen Herzlisee mag ich gar nicht mehr anhalten. 


 


 


Auch an ein paar Herdenschutzhunden muss ich noch vorbei, die sind aber zum Glück friedlich. Kurz vor sechs dann erreiche ich endlich die Hütte, eine eiskalte Dusche und ein Quöllfrisch wecken die Lebensgeister. Die Hüttenwarte machen Musik vor dem Essen, zum Znacht gibt's ein Mix aus Pizzocheri und Älplermaggronen. Lecker! Ich unterhalte mich bestens mit meinen Tischnachbarn. Unter anderem sitzt ein Hirte bei mir am Tisch, der von den Problemen der Digitalisierung und Verbürokratisierung der Schafhirten erzählt. Krass, aber auch interessant. Doch leider fallen mir fast die Augen zu und ich schlafe trotz Lärm aus der Hüttenstube und Hitze im Schlafsaal bald ein. Rifugio Pian Grand - Capanna Buffalora, 23 km


11. August 2022.  Ich schlafe zwar gut, aber es ist heiss im Schlafsaal, und ich erwache irgendwie gerädert. Die Hütte liegt im Nebel, als ich aufbreche. Zunächst führt der Weg wieder bergauf zum Buffalora-Pass, wo mitten auf dem Wanderweg im nassen Gras ein älterer Herr im Schlafsack liegt und sich nicht von den vorbeilaufenden Wanderern stören lässt beim Ausschlafen. Ich bin ein bisschen verwundert, denn es hat geregnet nachts und er muss pflotschnass sein. Mein Weg führt weiter den steilen Grashängen entlang, hier darf man nicht stolpern oder auf dem feuchten Weg ausrutschen. Zwar hat es an den meisten tückischen Stellen Ketten und einmal auch eine steile Eisentreppe, dennoch erfordert der Weg viel Konzentration und ich bin furchtbar müde (der Kaffee auf der Hütte war leider nicht so toll, wie meistens). 


 


Daher beschliesse ich bei der ersten Alp, wo gerade eine herzige Ziegenherde weidet, vorzeitig abzusteigen ins Tal. Ein schöner lauschiger Waldweg führt an mächtigen Felsen vorbei über winzige Alpen (mit Eseli!) in endlosen Serpentinen hinunter ins heisse Calanca-Tal. Dort finde ich zum Glück eine kleine Bar, wo es einheimisches Glacéund Bier gibt, und ich meine Beine strecken kann bis das Postauto kommt. Capanna Buffalora - Cauco, 17 km





Mit dem Postauto geht's nach Bellinzona in die hübsch unter der Burgmauer gelegene, aber laute und völlig überhitzte Jugendherberge. Ich fühle mich uralt, aber die Kids hören immer noch "Baby hit me one more time" in dröhnender Lautstärke, es ist irgendwie tröstlich, dass auch Britney wohl mittlerweile ein Oldie-Klassiker ist. Dafür gibt's eine leckere Pizza an der Piazza Independencia. Ich mache vor lauter Hitze kaum ein Auge zu und beschliesse, mir morgen keine acht Stunden Wanderung anzutun.

 

12. August 2022. Kleine Postauto-Odyssee mit dem Ticino Ticket bis ins Val Colla statt wie geplant ins Val Morobbia. In Lugano verpasse ich mein Postauto weil der provisorische Busbahnhof wegen Bauarbeiten ein paar hundert Meter verlegt wurde (und den muss man erst mal finden), da reichen die knapp bemessen Umstiegzeiten leider nicht mehr. Naja, dann ist jetzt klar dass ich heute nur noch zur Hütte laufe und den Gazzirola-Gipfel nicht mehr mitnehme. Dafür wird es dann ein schöner, kurzer und fauler Wandertag.


 Es ist mittlerweile fast Mittag, als ich im Val Colla loslaufe, und dementsprechend heiss. Glücklicherweise führt der Weg zur Hütte grösstenteils durch den Wald, wo es angenehm kühl und schattig ist. 

 



Am frühen Nachmittag bin ich bereits auf der Capanna San Lucio und geniesse einen langen Nachmittag auf deren hübscher Terrasse, bevor ich abends noch einen kleinen Spaziergang auf der Krete mache. Die Hütte liegt nicht sehr hoch, gerade mal auf 1600 Metern, trotzdem ist man hier knapp über der Baumgrenze und hat dementsprechend eine tolle Aussicht in Richtung Comersee und nach Tesserete. Es ist sehr trocken und wirkt schon recht herbstlich, nur die Sicht ist noch hochsommerlich diesig. Ich kann mir gut vorstellen, hier im Spätherbst oder früh im Frühling nochmals herzukommen, wenn die Alpen schon oder noch schneebedeckt sind. Man fühlt sich nämlich dennoch richtig in den Bergen. Die Hütte liegt noch auf Schweizer Boden, die Preise jedoch sind italienisch - 49 Franken für Halbpension mit Getränken, der Wein steht einfach auf dem Tisch. Dafür kriege ich ein Zweierzimmer mit quasi Privatbad. Da kann ich gut drüber hinweg sehen, dass der Empfang recht verhalten ist und das Essen nicht der Brüller. Irgendwie sind alle am Vorbereiten für ein grosses Alpfest, ich bin fast der einzige Gast und eher nebensächlich. Macht nichts, ich habe eh viel Schlaf nachzuholen und bin um halb neun im Bett. Certara - Capanna San Lucio, 8 km






13. August 2022. Ich stehe früh auf, denn die heutige Etappe ist wieder mit etwa sieben Stunden angeschrieben. Die Morgenstunde ist goldig, sogar die Kühe sitzen andächtig auf der Wiese und geniessen die schöne Aussicht. 


 



Bis zur Pairolo-Hütte geht es flott voran, ich kann endlich ein bisschen laufen, ohne ständig auf die Füsse zu schauen oder heftig zu schwitzen. Danach führt der Weg jedoch durch die Denti de la Vecchia - wunderschöne Felszähne auf dem Grat. Der Weg ist spektakulär, aber auch wieder anstrengend und erfordert ein bisschen Konzentration. Hübsche Alpenveilchen säumen den abenteuerlichen Weg. Man hat hier viele Optionen: meistens gibt es einen Weg oben über die Krete, links auf der italienischen Seite oder rechts auf der Schweizer Seite vorbei. Ich lasse ein paar Gipfel aus und wandere heute lieber durch urchige Buchenwälder. 


 






Schon am frühen Nachmittag bin ich deshalb im Abstieg nach Bré, meinem Ziel für heute. Ab und zu lichtet sich der Wald und bietet hübsche Aussicht auf den Luganersee. Kurz vor dem Ziel weichen die Buchen den Kastanien. Ich bin schon fast aufs Zielbier fixiert, da kriege ich den Schreck des Jahres (ich glaube, der ist unschlagbar, auch wenn es erst August ist). Als ich so gemütlich auf dem Steinplattenweg durch lichten Kastanienwald absteige, klatscht plötzlich hinter mir etwas Schweres auf die Steinplatte, wo ich eben noch lief. Ich drehe mich um, und sehe etwa 5 Meter hinter mir auf dem Weg eine ziemlich grosse, schwarze Schlange, halbverknotet, auf dem Weg zappeln, sich entwinden und Reissaus nehmen - zum Glück in die andere Richtung. Omeingott, Panik! Ich fasse es nicht. Die ist doch tatsächlich vom Baum gefallen! Sie muss auf einem Ast gelegen haben, direkt über mir, ich hab sie nur um wenige Sekunden verpasst. Nett von ihr, sich noch festzukammern bis ich durch war, aber alleine schon die Vorstellung, die Schlange wäre mir auf den Kopf gefallen, bietet Stoff für Alpträume fürs nächste Jahrzehnt. Ich fürchte mich vor Schlangen, aber ging bis jetzt davon aus, dass es in Europa zumindest reicht, vor die Füsse zu schauen, und nicht auch noch auf die Bäume und Äste über mir. Die restliche Viertelstunde bis ins Dorf Bré gucke ich jedenfalls panisch in die Bäume über mir, bevor ich endlich erleichtert in eine Gartenbeiz bei der Postautohaltestelle sinke und schnell ein grosses Beruhigungsbier bestelle. Capanna San Lucio - Bré Paese, 19 km


 

 


In Lugano beende ich für dieses Jahr meine Grenzwertig-Tour, denn für die Tessiner Berge ist es einfach zu heiss im Moment, und fürs Wallis fehlt mir die Energie. Der Teil Luganersee-Genfersee bleibt also noch offen: Grenzwertig, der Südwesten folgt irgendwann.

 


 

Hier eine Karte meiner diesjährigen Grenzwertig-Tour:


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