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Grenzwertig-Tour - Der Südosten. Teil 2: vom Unterengadin ins Val Müstair und durch den Nationalpark

 


 

5. Juli 2022. Ich habe mich entschieden - ich überspringe vorerst ein paar Etappen im Unterengadin. Es wird nachgeholt, aber ich weiss noch nicht, mit welchem Transportmittel. Diese Tour wird eh nicht linear verlaufen - wie schon letztes Jahr auf der Via Alpina habe ich zwischendurch Verpflichtungen daheim (Vorstellungsgespräche, Katze füttern, Garten pflegen, und natürlich Zeit mit dem Schatz verbringen). Heute klingelt mein Wecker im Morgengrauen, damit ich so früh wie möglich in Sent bin. Von hier will ich ein paar Tage dem Nationalpark-Panoramaweg folgen, als Erstes gehts zur Sesvennahütte. Eigentlich keine mega schwere Tour, aber ich habe immer noch brutal Muskelkater und will gaaanz langsam gehen können. Und ohne schweres Gepäck. Drum der Frühstart, der sich wie ein Fehlstart anfühlt. Denn der Himmel weint, es kübelt richtig, obwohl heute eigentlich kein Regen angesagt war. Ich bin schon nass bevor ich im Zug sitze. Es regnet vom Appenzell bis ins Unterengadin. Der Wetterbericht hinkt hinterher, behauptet aber immer noch, ab 11 Uhr wirds schön. Missmutig steige ich aus dem dampfenden Postauto, spanne den pinken Schirm auf (ein treuer Begleiter auf der Via Alpina, den ich hoffte, diesen Sommer nicht so oft zu benützen) und wandere im Regen los. 


 

Es regnet mit Unterbrüchen bis am Nachmittag. Aber die Route durchs Val d´Uina ist wunderschön, auch wenn der untere Teil eher den Mountainbikern gehört. 


 

Hinter der letzten Alp geben die meisten dann auf, nur die Hartgesottenen wagen sich auf den Bergweg hoch zur Uina-Schlucht, wo der Weg in den Fels gehauen wurde. Ein fantastischer Weg! Es geht ordentlich steil zur Sache, auch ich bin am Keuchen. Bin ich froh, muss ich den Zorro hier nicht hochbuckeln! 



 



Wirklich sehr cool, dieser Felsenweg, kann ich nur empfehlen. Er ist breit genug, dass man sich nicht fürchten muss, und die Aussicht geniessen kann. Tiefe Felswände stürzen steil nach unten zum tosenden Bach. Oben steigt man aus der Schlucht und landet im Murmeli-Himmel, ein weites, grünes Hochtal, wo endlich die Sonne scheint. Natürlich lassen sie sich wie immer schlecht fotografieren mit dem Handy. 



 

Spätnachmittags stehe ich auf dem Schlinigpass und überquere die Schweizer Grenze ins Südtirol. Ein Hochmoor, ein paar hübsche kleine Seen und viele Blumen zieren den ansonsten unscheinbaren Pass. Nun ist es nicht mehr weit zur Sesvennahütte, wo ich ein Bett im riesigen Schlaflager beziehe. 


 

Die Hütte ist glücklicherweise nicht voll. Die Aussicht ist leider noch etwas wolkenverhangen, sonst würde man glaubs sogar den Ortler sehen. Und es ist kalt geworden! Ich sitze nur kurz auf der Terrasse (in Wolldecken gehüllt), bevor ich mich in die gemütliche Stube zurückziehe. Dort unterhalte ich mich prima mit meinem Tischpartner Lorenzo, einem 24jährigen Italiener aus Bozen, der grosse Reisepläne hat und mich über Südamerika ausfragt. Dafür verrät er mir seine Wander-Geheimtipps im Südtirol und den österreichischen Alpen. Ich vergesse sogar, mein tolles Abendessen zu fotografieren, so gut unterhalten wir uns - es gibt eine tolle Vorspeise, Salat und megaleckere Pasta. Auch der Wein ist gut, und im Schlafsaal mit nur 4 anderen Mitschnarchern schlafe ich herrlich. Bin wieder ein bisschen versöhnt mit den Berghütten. Sent/Sur En - Sesvennahütte, 14 km 




6. Juli 2022. Nach dem Frühstück auf der Sesvennahütte mache ich noch einen kurzen Abstecher zur alten Hütte, ein paar hundert Meter weiter. Von hier hat man nämlich tolle Aussicht auf den Ortler! Leider hüllt der sich heute morgen in Wolken, ausserdem geht ein eisiger Wind, es sind nur 8 Grad. Daher bin ich nicht unglücklich, dass es gleich steil bergauf geht zur Sesvennascharte - da wird einem warm. Doch ich komme nur langsam voran. Erst werde ich von den neugierigen Kühen verfolgt, die mir an den Waden und am Rucksack schlecken, dann muss ich eine ganze Weile den herzigen Murmeli zugucken. Die sind aber heute nicht nur süss, sondern auch zänkisch - sie fiepen, krallen, beissen und überschlagen sich auf den Felsen vor mir. Da wird keine Gnade gezeigt. Worum es wohl geht, die besten Kräuter oder die hübschesten Männlein? 


 

Die Kälte treibt mich irgendwann weiter bergauf, vorbei an herrlichen Alpenblumen. Ich mache einen Abstecher zum quietschblauen Sesvennasee, bevor ich weiter zur Fuorcla Sesvenna aufsteige. Oben treffe ich ein paar andere Wanderer, die eigentlich noch einen Piz besteigen wollen, aber weder Karte noch Handy dabeihaben, bloss eine vage Wegbeschreibung der Hüttenwartin. Da kann ich aushelfen und zwei Gipfelstürmer glücklich machen mit meinen vielen Apps (Peakfinder hilft schon mal, den richtigen Gipfel zu finden). Sie machen dafür ein schönes Foto von mir. 



 

 


Auf dem Abstieg bin ich derart fasziniert von der grandiosen Aussicht auf den Gletscher und die kitschblaue Gletscherlagune unter dem Sesvenna, dass es mich unverhofft voll auf den Latz haut. Das tut weh, auch wenn ich glimpflich davonkomme - ein paar Schrammen an Knie und Händen, "de Schnuuf veschlage" und ein lädiertes Ego. Zum Glück hat niemand zugeschaut... Ich mache erstmal Pause, es ist jetzt endlich etwas wärmer, und laufe dann etwas konzentrierter weiter. Bald weitet sich das Tal und der Weg führt stolperfrei und gemütlich über die Kuhweiden, durch Arvenwälder und vorbei am mäandernden Gletscherbach nach S-charl. Hier beziehe ich ein urchiges, winziges Einzelzimmer unter dem Dach im alten Hotel Mayor, wo das WLAN zwar wackelig ist, aber das Essen hervorragend. Ein weiterer toller Wandertag im Engadin - wieder eine supertolle Route, sehr empfehlenswert! Sesvennahütte - S-charl, 13 km



   



7. Juli 2022. Heute wandere ich auf der Via Alpina, und es fühlt sich fast ein bisschen wie heimkommen an, obwohl ich diese Etappe noch nie gelaufen bin - letztes Jahr habe ich einen anderen Weg durch den Nationalpark gewählt. Der Aufstieg zur Cruschetta ist gemütlich und wenig steil. 


 

Auf dem Pass hat es ein hübsches Kreuz und einen Picknicktisch, doch es geht ein kühler Wind, also steige ich noch ein bisschen ab bevor ich meine Mittagspause mache. Gleich hinter der Cruschetta hat man eine herrliche Aussicht auf den Ortler, und heute ist er auch nicht in den Wolken. 



 

Bei der lauschigen Jöchl-Hütte esse ich meine Brötchen. Die Nothütte der Bergwacht Taufers ist äusserst gemütlich, man könnte hier auch schlafen. Es gibt einen Ofen und sogar einen Brunnen, nur das Essen müsste man mitbringen. Schade dass ich das vorher nicht wusste... 



 Nun geht es nur noch bergab bis nach Müstair, gemütlich aber es zieht sich. Es tröpfelt ein bisschen und daher freue ich mich, als ich bereits am frühen Nachmittag das Postauto beim Kloster Son Jon noch erwische, so bin ich zum Znacht daheim. 🤗 S-charl - Müstair, 17 km


 

9. Juli 2022. Wieder ein kleiner Jump auf der Karte! Die nächsten 4 Tage begleitet mich Sven und wir machen zusammen Wanderferien - ohne schweres Gepäck und im Hotel. Darum auch ein Richtungswechsel, da die Cluozza-Hütte am Wochenende ausgebucht war. Heute Abend genießen wir Dolce Vita in Livigno.


 10. Juli 2022. Während wir gemütlich im Hotel beim Frühstück sitzen, verzieht sich die Sonne und schickt einen eisigen Wind ins Val Fedaria. Da es schon bald zünftig bergauf geht, schwitzen wir trotzdem und das Jacken-an, Jacken-aus-Ballett nimmt seinen Lauf. Die Strecke ist auch bei Mountainbikern beliebt, noch flitzen sie an uns vorbei, aber bald wird es so steil, dass die meisten schieben. 


 

Nachdem wir den gröbsten Rummel hinter uns gelassen haben, tauchen endlich auch die Murmeltiere auf, aber der Wind bläst so eisig, dass wir schnell weiter laufen. 


 

Kurz nach Mittag erreichen wir das geschlossene und ziemlich hässliche Rifugio Cassana, dort hat es immerhin ein paar Bänke im Windschatten. Schnell ein ungemütliches Picknick und weiter. 


 

Das Panorama wäre toll, leider sind die höchsten Gipfel in den Wolken. Nun sind wir fast oben auf dem Passo Cassana, was auch gut ist, denn mittlerweile ist es so eisig kalt, dass wir in Daunenjacke, Mütze und Handschuhen wandern. Das Passfoto sieht aus wie auf einer Winterwanderung, einfach ohne Schnee. 


 




Hinten runter führt ein schönes Zickzackweglein in endlosen Kurven ins Val Caschauna. Bald wird es wärmer, der Wind lässt etwas nach und die Sonne scheint wieder. Überall gucken plötzlich die Murmeli raus und beobachten gespannt die beiden Zweibeiner, die da so langsam und ohne Hoppelräder durchs Tal schleichen. Wir sind happy, ziehen Jacken aus und knipsen Murmeltiere ohne Ende. 


 

Weiter unten finden wir noch süsse Erdbeeren, bevor wir zum Endspurt ansetzen zur Parkhütte Varusch im Val Trupchun. Dort sitzen wir fast schwitzend in der Sonne und geniessen ein kaltes Bier, etwas, das wir uns am Mittag noch gar nicht vorstellen konnten (da befürchteten wir, dass wir abends Glühwein und Holdrios trinken müssten). Es ist herrlich! Die Hütte wird von einem jungen Paar aus Thüringen und Salzburg verwaltet. Die beiden mögen bayerisches Bier, und so gibt's das kühle Nass vom Hofbräuhaus Traunstein nicht nur zu trinken, die Flädlisuppe hat auch Bier drin (und wird im Bierhumpen serviert), und zur Polenta gibt's eine leckere Bierbratwurst. Nur im Apfelkuchen war meines Wissens kein Bier drin. Unser winziges Zimmer ist zwar gemütlich aber direkt neben dem Kinderzimmer und über der Stube - man hört jeden Mucks hier. Zeit für Oropax und ab ins Nest! Livigno - Parkhütte Varusch, 20 km


 

 11. Juli 2022. Beim Frühstück treffen wir Freddy, einen weitwandernden Jäger aus Rehetobel, der auch in die gleiche Richtung will wie wir - über die Fuorcla Val Sassa. Wir brechen gemeinsam auf ins Val Trupchun. Es ist berühmt für seine vielen Hirsche, doch heute bekommen wir keine zu Gesicht. Dafür viele Murmeltiere und ein Gamsbock, der überhaupt nicht scheu ist. Klar, wir sind ja im Nationalpark.


 


 Der Aufstieg ist ein wunderschönes Weglein durch Lärchen und Legföhren, ein paar letzte Alpenrosen blühen. Über der Baumgrenze geht es dann steil bergauf und es hat auch ein paar bröckelige Klettterpassagen - wir sind auf einer blauweissen Route. Freddy eilt jetzt voraus, wir sind ihm zu langsam. 


 

Wir machen erst mal Picknick, um uns für den letzten Anstieg zum Pass zu stärken. Wir keuchen beide, spüren die Höhe. Doch je höher wir klettern, desto toller das Panorama. Die Gletscher der Bernina-Gruppe werden sichtbar, ein hochalpines Bergseelein zeigt sich plötzlich. Endlich oben! Eine fantastische Marslandschaft liegt vor uns, nichts als Steine. 


 

 



Schnell ein paar Fotos und dann nichts wie runter, denn der Wind geht eisig hier oben. Doch der Abstieg ist steil und sandig, zwingt uns, in laaaaangsamem, vorsichtigem Rutsch-Stöckel-Rutsch-Modus zu gehen. 


 

Endlich wird es flacher, dafür ist jetzt der Weg verschwunden. Naja, wir rutschen erst mal fröhlich über ein Schneefeld runter, Sven ist wieder in Hochform. Weiter unten finden wir wieder ein paar Markierungen und rutschen drei endlose Stunden durchs "Tal der Steine". Steinböcke sehen wir keine, denn ausser ein paar leuchtgelben Mohnblumen gibt's hier nichts zu futtern. Weit und breit keine menschlichen Spuren, die totale Wildnis! 


 




Endlich, es ist schon Abend, erreichen wir den Talboden und wandern noch gemütlich die letzten Kilometer zur Cluozza-Hütte, der einzigen Unterkunft im Nationalpark (biwakieren ist hier verboten). Die legendäre Blockhaus-Hütte wollte ich schon lange mal besuchen. Wir werden sehr freundlich begrüsst mit frischem Tee (super, denn es war ein durstiger Tag!), danach geniessen wir ein leckeres Bio-Bier aus Tschlin. Das Abendessen schmeckt toll, alles kommt aus der Region und ist vegetarisch. Doch leider ist die Hütte mega voll, so ist es laut, eng und es hat zuwenig Salat 😢. Abends kann man vor der Hütte dafür noch viele Tiere beobachten, es sind lauter nette Leute da. Trotzdem wird es eine unruhige Nacht, denn man hört jeden Mucks, die Türen knallen, die Treppe knarzt, aus dem Schlafsaal über uns poltert es. Die Toiletten sind draussen, daher geht nach Sonnenuntergang eine wahre Völkerwanderung los im Haus. Keine erholsame Nacht! Parkhütte Varusch - Cluozza-Hütte, 16 km


 

 

12. Juli 2022. Heute steigen wir nur noch ab nach Zernez, eine kurze Wanderung durch den schönen Bergwald. Natürlich geht's noch mal steil bergauf, wär ja sonst zu einfach - ein kleiner Felssturz will umgangen werden. Aber ansonsten ein herrlich entspannter Spaziergang, auf dem weichen Waldweg laufen wir sogar ein Stück barfuss. Cluozza-Hütte - Zernez, 10 km


 

 


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