3. Juli 2022. Guten Morgen! Bereits um fünf wird es hell, aber ich drehe mich nochmals um - es ist so herrlich ruhig. Kurz vor sieben muss ich dann wirklich raus, die Blase drückt. Ich wühle mich aus dem Schlafsack und bin baff: obwohl alles noch im Schatten liegt, stehen rund um den See mehrere Fotografen mit gigantischen Teleobjektiven und spannern in die frühmorgendliche Landschaft. Was sie wohl beobachten? Kein Steinbock oder Adler ist zu sehen, aber ich muss dringend Pipi und es gibt keine Büsche oder Felsen hier. Ziemlich frustriert galoppiere ich eine kleine Ewigkeit, um den Teleobjektiven nicht meinen schneeweissen Hintern zu präsentieren. Zurück im Zelt gibt es einen schaurig schlechten Nescafé und trockenen Energie-Riegel, bevor ich zusammenpacke. Mittlerweile ist die Sonne über den Berg und die Fotografen packen auch ein. Plötzlich steht einer von ihnen hinter mir und druckst herum - ob ich vielleicht ein Feuerzeug oder Zündhölzer hätte? Dummerweise habe ich beides nicht mehr dabei (ultralight, weisch), aber als ich höre, dass sie Kaffee (richtigen Kaffee!) kochen wollen, und mich auch einladen würden, werfe ich ihnen meinen Gaskocher praktisch hinterher. Sie haben eine Bialetti dabei! Ich bin im Himmel und geniesse den richtig guten, zweiten und dritten Kaffee, während wir plaudern. Die drei fotografieren wohl gern Spiegelbilder zum Sonnenauf- und -untergang, gestern Abend waren sie an den Jöriseen. Fröhlich und voller Koffein starte ich in Richtung Fuorcla Zadrell auf 2751 m.
Der Weg wird fast unsichtbar, ich laufe mehrheitlich den Markierungen nach. Bald bin ich so hoch, dass die ersten Schneefelder auftauchen, aber hauptsächlich ist es eine Steinwüste. Der Weg existiert nicht mehr, ich hüpfe von Stein zu Stein und versuche, die Route nicht zu verlieren. Grundsätzlich mag ich solche Abschnitte, aber sie sind sehr anstrengend mit dem schweren Rucksack, vor allem, wenn es keine ausgetreten "Pfad" gibt und alle Steine sehr scharfkantig und viele davon instabil sind. Das regelmässige "Klonk", wenn sie sich unter meinem Fuss bewegen, hält das Adrenalin auf einem gewissen Pegel. Die Markierungen werden seltener, und inkonsistent - es gibt neue und alte Zeichen, Steinmännchen führen nochmals woanders hin. Keine leichte Sache. Endlich bin ich auf dem Pass.
Hinten runter präsentiert sich zwar eine schöne Aussicht, allerdings auch weiterhin endlose Steinwüste mit verstreuten Markierungen mal links mal rechts - es geht also im gleichen Takt weiter, nur jetzt bergab. Und zwar steil. Ich fahre die Stöcke aus und versuche, den sichersten und besten Weg zu finden. Immer mal wieder kommt eine Wegspur für ein paar Meter, dann verschwindet sie wieder und die nächsten Markierung ist gefühlt 100 Meter rechts oder links meinem aktuellen Standort. Wer hat diese Route gelegt? Ich habe besoffene Steinböcke im Verdacht. Vor mir sehe ich ein Bild von Gian und Giachen, wie sie am Samstagabend nach der Zecherei hier oben im Vollmond die Farbkübel schwenken und im Suff mal links, mal rechts torkel-hopsen. Anders kann es nicht gewesen sein. Ich bin erschöpft, aber der Abstieg ist noch weit. Eine Pause ist notwendig, ich futtere mein restliches Brot und den ganzen Käse, der für 4 Tage reichen sollte. Ups.
Danach folge ich einer Wegspur, die im Nichts endet, muss einen Kilometer zurück (bergauf!), beschliesse, dass das Quatsch ist und ich auch querfeldein auf die eh nicht existierende, richtige Route gehen kann. Das kommt super (Ironie), ich verfranse mich im Steilhang in den Erlenbüschen, die mir die Beine zerkratzen. Endlich, nach Stunden, erreiche ich den Talboden und es hat einen richtigen Weg. Als ich zurück blicke, sehe ich zwei Gletscher und zwei tosende Gletscherbäche, ein wahnsinnig schöner Anblick. Allein dafür hat sich die Tortour gelohnt, aber ich brauche noch einen Moment, bis ich die innere Wut auf diesen blöden Weg begrabe. Meine von mir selbst zusammengestiefelte Route ist zu hart für mich - zumindest so untrainiert, mit dem schweren Rucksack und den Trailrunner-Schuhen, die in dem Gelände wirklich ein Nachteil sind. Morgen werde ich soooo Muskelkater haben von dem langen Abstieg!
Als ich wieder Netz habe, sehe ich auch noch, dass es morgen den ganzen Tag gewittert. Der Entscheid fällt leicht, ich laufe ins Tal nach Lavin. Ein kühles Getränk wäre jetzt noch cool, doch die erste Alp wirkt privat, die zweite ist wegen Steinschlag geschlossen. Ich habe es schon fast aufgegeben, doch die dritte Alp hat kühle Getränke im Brunnen und ein Kässeli daneben. Was für liebe Menschen! Flott geht's jetzt ins Unterengadin, vorbei an ein paar supercoolen Holzschnitten. Der Bär im Baum erinnert mich an eine lustige Episode im Sequoia-Nationalpark in den USA. Erschöpft aber happy erreiche ich den Bahnhof von Lavin. Jetzt erst mal daheim den Muskelkater kurieren und diese Route nochmals neu planen. Chessisee - Lavin, 15 km
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