Direkt zum Hauptbereich

La France est fermée





Wanderlust 2021, Woche 36-37: 
Die Rückreise nach Italien beginnt vor dem ersten Hahnenschrei, denn es fahren nur wenige Busse in das abgelegene Ceresole Reale. Ich schlurfe also schlaftrunken um 5.30 Uhr aus dem Haus. Gut, dass wir gleich neben dem Bahnhof wohnen. Mit drei superschnellen Eurocitys, einem Bummelbähnchen und einem Regionalbus geht es zurück ins Vale Locana. Nachmittags hüpfe ich aus dem Bus und stehe wieder auf dem netten Camping, auf dem ich letzte Woche bereits war. Man erkennt mich gleich wieder, das Zelt steht praktisch auf dem gleichen Fleck, das Wetter ist sonnig und warm. Nach einer leckeren Pizza im nahegelegenen Kletterer-Hostel schlüpfe ich gut gelaunt ins Zelt - und verschlafe total, denn der nächste Morgen ist so trüb und grau, dass ich denke: "Ist sicher grad erst Morgengrauen", mich nochmals umdrehe und bis nach neun Uhr schlafe. Da realisiere ich dann erst, dass ich im dicksten Nebel sitze, alles feuchtnass ist, und ich dringend loslaufen sollte. Puh, so ein Mist! Rasch packe ich alles zusammen und steige durch den nebligen Wald auf. Die blaue Via Alpina ist nicht flacher geworden, während ich weg war - auch heute geht es wieder auf über 2600 m hoch. Doch ich sehe wenig von der Landschaft - nur ab und zu lichten sich die Wolken etwas nach unten, ich geniesse kurz einen Blick auf den tiefblauen Stausee von Ceresole Reale. Der Gran Paradiso, einer der letzten Viertausender auf dieser Tour, den ich seit vielen Wandertagen langsam umrunde, aber nicht ein einziges Mal erblickt habe, und den ich heute wohl das letzte Mal gesehen hätte, bleibt unsichtbar, ebenso die vielen Dreitausender und ihre Gletscher nahe der französischen Grenze. Ich muss meine Motivation in einer aufgezwungenen Kurzsichtigkeit finden. Ein paar herzige Murmeltiere lassen sich blicken. Ausserdem erkenne ich die ersten Anzeichen von Herbst, ein paar schön rot-orange verfärbte Blütenstengel bilden bunte Tupfer im Gras neben dem Weg.


Endlich erreiche ich den Colle della Crocetta. Ausser ein paar grauen Felsen im dichten Nebel nichts zu sehen - nur eine Madonna in einem kleinen Felsenschrein wacht über den Pass. Der ewig lange Abstieg ist ebenso aussichtslos wie der Aufstieg. Ein paar kleine Bergseen tauchen aus dem Nebel auf, ein paar verlassene Alphütten ebenfalls. Erst als ich die Baumgrenze erreiche, lichtet sich der Nebel, ich habe es wieder unter die Wolkenbank geschafft und sehe ein neues Tal unter mir. Doch es dauert noch ein paar Stunden, bis ich ganz tief unten angekommen bin. Pialpetta ist ein hübsches altes Dörfchen, die Steinhäuser sitzen eng beieinander. Es ist schon spät, als ich das Posto Tappa der GTA erreiche, ein in die Jahre gekommenes, aber freundlich geführtes Hotel. Nach dem deprimierenden Tag brauche ich jetzt ein trockenes Bett, eine heisse Dusche und ein leckeres Essen. Ich bekomme für 50 Euro ein Doppelzimmer mit Balkon und Halbpension - keine Frage, da schlage ich zu. Das Abendessen ist, wie immer in diesen Posto Tappa, der Hammer - es gibt einfach ein fixes Menü, keiner fragt, was ich essen möchte. Die andern Gäste kriegen Menüs und dürfen wählen, doch offenbar sind das besser situierte Hotelgäste, die wohl auch mehr bezahlen als ich. Mir ist es egal, ich vertraue total auf die "GTA-Küche", wie ich es mittlerweile nenne. Es ist immer sehr lecker und sehr viel. Heute bin ich kurz irritiert, weil man mir erst die Pasta serviert, dann eine grüne (bestimmt sehr gesunde) Suppe, dann eine Weile nichts mehr - und ich schon kurz die Krise kriege, ob ich heute wohl hungrig ins Bett muss. (Ein Teller voll Pasta und gesundes Zeugs sind nie und nimmer genug nach so einem Wandertag). Doch alles wird gut, es folgt ein Kotlett mit Kartoffeln und viel Gemüse, danach noch ein mastiger, extrem feiner Schokokuchen, und ich rolle mich mit letzten Kräften aber überglücklich die Treppe hoch und ins Bett. Ganz sicher werde ich alle verlorenen Kilos dieser Tour auf den letzten paar hundert Kilometern der Via Alpina wieder anfressen.
Der nächste Tag ist leider praktisch identisch mit dem vorhergehenden Tag - eine dicke Wolkenschicht liegt über dem Tal, und innerhalb einer Stunde bin ich mitten im Nebel drin, den ich erst kurz vor dem Ziel wieder verlassen werden. Es ist zum Heulen. Heute geht es über den Colle Trione nach Balme. Highlight des Wandertages sind ein paar bunte Pilze und ausserdem Kühe mit wunderschönen Augen. Sie haben weisses Fell und schwarze Augen, die aussehen, als hätten sie dick schwarz geschminkte Augen. Oder als ob ihnen jemand zwei Panda-Augen verpasst hat. Ich komme an traumhaften Bergseen, umgeben von wunderbaren, herbstrot verfärbten Beerensträuchern vorbei - doch der Nebel ist mittlerweile so dicht, dass ich die Seen erst erkenne, kurz bevor ich reinfalle. Nebeltröpfchen setzen sich auf meine Augenbrauen, die Härchen auf meinen Armen, es fühlt sich an wie November. Missmutig schlinge ich mein Käsebrötchen an einem wunderschönen See hinunter, der mir heute nur die Kälte in die Knochen treibt. 



Die letzten paar hundert Höhenmeter zum Pass wird es richtig steil in den Felsen, ich muss meine Hände zur Hilfe nehmen. Endlich bin ich oben. Wieder erkenne ich nichts, nur ein paar Felsen, der Pass eine Lücke dazwischen, alles grau - doch dann erscheinen auf dem Felsen im Nebel über mir plötzlich ein paar mystische Kreaturen mit Hörnern. Wie eine Fata Morgana stehen dort zwei Steinböcke. Anfangs erkenne ich nur ihre Hörner, irgendwann nehmen sie Form an, und nachdem ich sie sicher 5 Minuten angestarrt habe, bewegen sie sich auch ganz wenig - und ich bin jetzt sicher, dass sie weder ausgestopft sind, noch irgend ein komisches Kunstprojekt hier oben am Pass, welches ich im Nebel nicht richtig erkennen kann. Wie schön! Nach all dem Grau-in-Grau könnte ich fast heulen vor Freude. Ich glaube, ich verdrücke auch ein Tränchen, und mache ein Selfie mit mir und den vernebelten Steinböcken, die mich offenbar genauso faszinierend finden wie ich sie.



Nachdem ich mich losgerissen habe, steige ich ab. Stundenlang geht's im Nebel bergab Richtung Balme, die Landschaft präsentiert sich praktisch identisch wie am Vortag, nämlich unsichtbar. Einziger neuer Faktor sind die Preiselbeeren, die plötzlich am Wegrand auftauchen und sehr lecker schmecken. Der Weg ist schwer erkennbar heute, mehrfach verlaufe ich mich, weil ich einem Kuhtrampel folge, der besser sichtbar ist als der korrekte Weg. Ohne den GPS-Track auf meinem Handy wäre ich ziemlich aufgeschmissen, auch ohne Nebel. Doch mein treues Telefon, mein allerwichtigstes Stück Ausrüstung, navigiert mich immer wieder zurück auf die korrekte Spur, auch wenn ich manchmal eine halbe Stunde über stoppelige Kuhweiden voller Tretminen und durchs Brennesseldickicht stapfe. Endlich bin ich wieder unter dem Nebel und sehe das Tal unter mir. Wieder realisiere ich mit Frust, wie weit ich noch absteigen muss, denn auch heute will ich in einen Posto Tappa. Die Vorstellung, nach so einem frustrierenden Nebel-Wandertag noch irgendwo zwischen den Kuhfladen mein Zelt aufzustellen und dann eine traurige Nudelsuppe zu kochen, wenn ich unten im Tal einen Wahnsinns-Dreigänger und ein bequemes Bett haben kann... nein, danke, auch wenn ich das biwakieren sonst liebe. Heute habe ich aber noch einen weiteren Grund, weiterzugehen, obwohl es bereits 18 Uhr ist: denn in wenigen Minuten habe ich die 2000 km voll! Solche Meilensteine sind immer ein riesiger Motivationsschub, insbesondere an einem so schwierigen Tag wie heute. Und so nehme ich mir trotz fortgeschrittener Stunde die Zeit, ein "2000 km" Bild zu schiessen, mit den wohl letzten Alpenblumen des Sommers. 



Danach fällt es mir leicht, die paar hundert Höhenmeter noch abzusteigen und ich trudle rechtzeitig vor der üblichen "Znacht-Zeit" im nächsten Posto Tappa ein. Dort gibt es ein solches Festessen, dass ich fast das Gefühl habe, man wolle mich feiern für meine 2000 km, obwohl heute alle dasselbe zu essen bekommen. Ein gutes Craft Beer dazu - ich bin wieder in Hochstimmung.
Am nächsten Morgen nehme ich es gemütlich, denn ich muss hier dringend Proviant einkaufen, und der Dorfladen macht erst um neun Uhr auf. Obwohl man auf der blauen Via Alpina fast jeden Abend in ein Dorf kommt, haben nur wenige von ihnen einen Laden, daher muss ich zugreifen, wenn ich mal an einem vorbeikomme, und mich den eigensinnigen Öffnungszeiten der Tante Emma beugen. Auch heute herrscht dichter Nebel, es ist so feucht, dass ich den Schirm aufspanne, als ich das Posto Tappa verlasse. Nach meinem Einkauf laufe ich los in Richtung Usseglio, zunächst geht es auf der Strasse aus dem Dorf raus. Ein alter Mann in einem noch älteren Auto überholt mich, bremst, kurbelt die Scheibe runter und fragt mich erstaunt, wo ich denn hin will bei dem Wetter. "Usseglio!", sage ich. "Über den Pass?", fragt der Herr besorgt, "Sie werden sich verlaufen! Das ist gefährlich bei dem Nebel!" Ich versichere ihm, dass ich seit Tagen im dichten Nebel über die Pässe laufe, und dass ich ein GPS dabei habe. Er murmelt dann noch was und fährt weiter. Wahrscheinlich die italienische Variante von "Alles Volltrottel, diese Wanderer". Ich hoffe, dass die heutige Etappe nicht schlimmer wird als die letzten Tage, doch der Aufstieg zum Passo Paschiet präsentiert sich wie ein copy-paste der letzten Tage: dichter Nebel, steiler Pfad, aber rein technisch alles kein Problem. Nur die Motivation hapert langsam. Mittlerweile lausche ich den ganzen Aufstieg lang Hörbücher, ansonsten gehen die Stunden, in denen ich auf rutschigen, schlammigen, steilen Pfaden aufsteige, nie vorbei. Auch heute komme ich wieder an vielen Bergseen vorbei - bei Sonnenschein sicher traumhaft, heute leider irgendwie deprimierend. Ein gemütliches kleines Holzbiwak bietet mir idealen Schutz vor der graunassen Feuchtmasse für eine Mittagspause. Doch es ist noch viel zu früh zum Anhalten, und so steige ich weiter. Die letzten paar Höhenmeter sind wieder sehr steil und felsig. Heute erscheinen keine Steinböcke, der Pass hüllt mich in dicken Nebel, und ich steige rasch ab, denn ich muss noch über eine zweiten Pass. 



Nach einem kurzen Abstieg windet sich der Weg, unsichtbar in den Wolken, wieder bergauf. Endlich stehe ich auf dem Colle di Costa Fiorita, und ausnahmsweise lichtet sich der Nebel bereits auf 2440m, um mir einen kurzen Blick auf die steile Flanke und das Tal tief unten zu bieten, bevor wieder alles in den Wolken verschwindet. Nun verstehe ich, was der alte Mann gemeint hat - der Abstieg ist kaum sichtbar und führt über eine sehr, sehr steile Wiese. Da ich dank der kurzen Nebelpause nun weiss, dass unter mir blanke Felswände sind, und alles nass und rutschig ist, steige ich besonders vorsichtig und im Schneckentempo ab. Fast vermisse ich ein bisschen meine Spikes. An den steilen Hängen grasen riesige Schafherden, manchmal sehe ich von Weitem durch die Nebelschwaden weisse Punkte, dann ein paar Hunde, die die Schafe antreiben, und irgendwo ein Schäfer, der gemächlich über die steilen Hänge stapft. 



Meinen Wanderweg haben die Schafe ordentlich versaut, ausgerechnet an den steilsten, schwierigsten Passagen ist alles aufgewühlt und ich stehe bis zu den Knöcheln im Schlamm. Mjam.... toll! Und jetzt beginnt es auch noch, richtig zu regnen, nicht nur der feuchte Nebel-Niesel. Meine Laune ist jetzt unterirdisch, der schwierige Abstieg ist anstrengend und dauert ewig. Endlich erreiche ich den Talboden und laufe auf der Strasse bis zum Posto Tappa von Usseglio. Ich habe keinen Blick mehr für das schmucke Dörfchen, ich will einfach nur noch ankommen, aus den Schlammschuhen raus, eine heisse Dusche und ein weiches Bett. Und natürlich einen italienischen Drei- oder Viergänger zum Znacht - mein Magen ist mittlerweile darauf konditioniert und knurrt schon seit Stunden. Auch heute erhalte ich ein Zimmer mit Balkon (prima, um die versauten Schuhe zu deponieren), die Dusche ist heiss, das Abendessen der Hammer - wie immer, doch heute sticht die Nachspeise hervor, eine Art Rahmglace-Meringue-Kuchen, der mir förmlich auf der Zunge vergeht. Gut, bin ich früh dran mit Essen (in den Posto Tappa gibt es für die Wanderer immer um 19.30 Abendessen), denn um halb neun trudelt die hiesige Fussballjuniorenmannschaft zum Essen ein, samt Trainermannschaft, mindestens 30 Leute. Aus dem ruhigen, ausgestorbenen Posto Tappa wird im Nu eine hochbelebte Trattoria. Geht man nach den Frisuren der Fussballjunioren von Usseglio, haben sie alle grandiose Karrieren als millionenschwere Profis bei irgendeinem teuren Fussballclub vor sich. Ich verziehe mich bald in mein Zimmer für meine zehn Stunden ungestörten Schlaf.
Als ich am Morgen aufwache und aus dem Fenster gucke, sehe ich den Sonnenaufgang, was mir wie ein wahres Wunder erscheint, nach dem vielen Nebel. Der Himmel ist quietschblau, ich kann es kaum fassen. Natürlich bleibt es nicht ewig so, doch die Quellwolken, die bereits ab 10 Uhr auftauchen, bleiben hoch und sind irgendwie schmuck. Heute ist nicht nur das Wetter toll, auch der Wegverlauf ist anders als sonst (und somit spannend): ich steige nur kurz und steil auf bis zu einer stillgelegten Feldbahn, der ich für mehrere Stunden folge - wunderschön flach! Sogar die Schienen sind teilweise noch sichtbar, auch wenn der Weg zugewuchert ist, komme ich gut voran. Am Wegrand wachsen viele Himbeeren, ich geniesse die leckeren Vitamine. Plötzlich stehe ich jedoch vor einem Tunnel, in dem die alten Schmalspurgleise verschwinden - es ist zapfenduster.



Also Stirnlampe raus und durch den Tunnel gestakst, der zum Glück nur wenige hundert Meter lang ist. Auf der andern Seite erreiche ich bald den Malciaussia Stausee, der offenbar ein beliebtes Ausflugsziel ist, denn hier tummelt sich wieder halb Turin. Ich umrunde den See in wahren Menschenmassen und steige auf zum Colle di Croce di Ferro. Bald wird es wieder einsam. Mittlerweile ist nicht mehr viel Sonne übrig, die Wolken sind schon wieder ziemlich dicht. Immerhin hängen sie heute noch sehr hoch, so dass ich zumindest nach unten schöne Aussicht habe, während ich auf einem alten, gepflasterten Passweg aufsteige. Die Heidelbeerbüsche glühen mittlerweile in den schönsten Rot- und Orange-Tönen und färben ganze Berghänge in feurige Flammen. Es ist wunderschön anzuschauen, und die Beeren schmecken auch noch recht lecker.



Auch die Murmeltiere sind noch sehr aktiv, wie kleine Rasenmäher sausen sie, Schnauze voran, über die Alpwiesen, und futtern die letzten Kräuter. Endlich, es ist bereits fünf Uhr, erreiche ich den Croce di Ferro auf 2558m. Die Wolken haben sich nun bereits auf Passhöhe abgesenkt. Kurz hinter dem Pass steht ein Rifugio, welches gemäss Internet an Wochenenden im September geöffnet sein müsste. Doch das Rifugio ist verriegelt und wirkt total verlassen. Trotzdem laufe ich hin und prüfe alle Türen. Zuhinterst lässt sich eine der schweren Eisentüren öffnen und offenbart den traurigsten Winterraum, den ich je gesehen habe: eine Betonkammer, vier leere Bettgestelle (keine Matratzen, nur Bretter), ein Tisch, ein Stuhl, ein Kerzenhalter ohne Kerzen. Hier muss man wirklich alles selber mitbringen, und Wasser gibt es auch weit und breit keines. Ausserdem ist der Raum bereits jetzt eiskalt. Ich zögere nicht lange, verriegle wieder alles und wandere weiter talwärts. Unter mir liegt nun das Susa-Tal, ein riesiges Tal und Verkehrsader, ein wichtiges Zwischenziel auf dem langen Weg nach Süden. Autobahnen, Städte, Fabriken, Lärm - das alles liegt mehr als 2000 Meter unter mir. 




So weit will ich heute nicht mehr absteigen, nicht mal für ein italienisches Znacht. Nach etwa zwei Stunden bin ich auf 2000 Meter, oberhalb einer Alp. Die Kuhfladen hier sind so alt, dass ich mir sicher bin, dass mich keine Kühe nachts stören werden. Im letzten Tageslicht (mittlerweile wird es bereits um acht dunkel) stelle ich mein Zelt auf, koche meine Pizzocheri (eines der wenigen italienischen Tütengerichte, welches tatsächlich schmeckt!) und falle erschöpft in den Schlafsack. Im Wald bellen ein paar Rehe - noch vor ein paar Monaten hätte ich das unheimlich gefunden, mittlerweile bin ich es gewöhnt. Bald geht der Mond auf, und es wird herrlich ruhig auf der Alp. Ich schlafe prima, hier unten ist es bedeutend wärmer.



Am Morgen breche ich früh auf, denn es wird ein langer Tag. Heute führt die Via Alpina hoch über dem Susa-Tal nach Frankreich, doch leider nicht flach - sie zappelt andauernd zwischen 1700 und 2300 Metern herum.


 Zunächst steige ich ab und komme an mehreren Alpen vorbei, an einer werde ich stürmisch begrüsst - von zwei ganz jungen, megaherzigen Hündli. Sie werden von einer strengen, misstrauischen Katzenmama gehütet, denn die wahren Hundeeltern sind bei den Menschen auf der Weide, an der Arbeit sozusagen. Ich könnte die zwei glatt einpacken, so herzig sind sie. Doch die Katzenmama passt gut auf, und irgendwann taucht ein Kind auf und packt die Hündli ein, damit sie mir nicht nachlaufen. Seufz... Ich laufe eine Weile auf der Strasse nach Susa, bis der Wanderweg wieder bergauf führt. Der Wald muss hier in den letzten Jahren gebrannt haben, ich wandere unter verbrannten Baumleichen. Es ist ein bisschen unheimlich, und sehr heiss, die Sonne brennt an den Südhang. Das Wetter ist endlich schön, die Wolken haben sich fast aufgelöst. Ich komme an einem Biwak vorbei, welches ich inspiziere - es wäre ein netter Ort zum Übernachten, wenn auch ein bisschen gammelig. Schade, dass offenbar niemand mehr Sorge trägt zu dem Ort. Nach einem Picknick mit herrlicher Aussicht aufs Tal steige ich steil bergauf zur nächsten Alp. Von Weitem schon sehe ich eine riesige Kuhherde, die in Einerkolonne ins Tal wandert, und an der Alp, die mein nächstes Zwischenziel ist, ebenfalls Halt macht. Da ich steil von unten zur Alp komme, sehe ich die Hunde erst, als ich quasi vor der Alphütte stehe - und auch die Hunde nehmen mich erst jetzt wahr. Drei kleine Hütehunde kläffen los, doch der wahre Terror sind die zwei riesigen Herdenschutzhunde, grosse weisse Patous, die nun völlig ausrasten, da ich sie überrascht habe. Innert Sekunden bin ich umringt, und das Herz schlägt mir bis zum Hals, denn die Herdenschutzhunde grollen, bellen, fletschen die Zähne und ich spüre ihren heissen Atem auf meinen Waden - einer hat seine Schnauze bereits unter meinem Rock. Während mein Adrenalinpegel in astronomische Höhen schiesst, vergesse ich alles, was ich auf den zahlreichen Hinweisschildern zu Herdenschutzhunden gelesen habe, und brülle panisch um Hilfe, während ich die Wanderstöcke hochhebe, um mir die Patous (im wahrsten Sinn des Wortes) von der Gurgel zu halten. Glücklicherweise ist der Hirte keine zehn Meter entfernt und eilt hinter der Hütte hervor, nach den Hunden rufend. Diese beruhigen sich nur wenig, ich jedoch bin total erleichtert. Der junge Hirte ist sehr nett, entschuldigt sich (obwohl es ja nicht seine Schuld ist, dass die Hunde ihre Arbeit machen), bietet mir Trinkwasser und Kaffee an, und fragt interessiert nach meiner Wanderung. Er hat bereits den grössten Teil des Sentiero Italia erwandert, von Kalabrien bis Ligurien. Wenn ich doch nur besser Italienisch könnte! Er wäre bestimmt ein sehr spannender Gesprächspartner geworden, und auch auf einen Kaffee hätte ich eigentlich Lust - aber die Hunde wollen sich nicht beruhigen, und so verabschiede ich mich bald, denn das tiefe Bellen und aggressive Verhalten der beiden Patous geht mir an die Nerven. Noch hundert Meter weiter verfolgen sie mich und bellen sich die Lunge aus dem Leib. Endlich bin ich ausser Reichweite. Es ist aber auch schwierig hier, am steilen Hang, diesen Tieren auszuweichen. Wie soll man hier eine Herde umgehen, ohne Abseilen? Abgesehen davon war mir neu, dass die Herdenschutzhunde auch Kuhherden bewachen.
Während ich noch über die für mich beängstigende Begegnung sinniere, hält die Via Alpina bereits einen neuen Challenge für mich bereit. Von der Alpe Crest führt der Höhenweg unter dem Rocciamelone, einem der einfachsten Dreieinhalbtausender der Alpen (es führt ein Wanderweg hoch und es hat eine Kapelle oben), hindurch in Richtung Frankreich. Es wäre ein wunderschöner Weg, doch leider gingen hier vor einigen Jahren bei einem schlimmen Unwetter mehrere riesige Murgänge nieder und haben den Weg weggerissen und mehrere Bachbette total ausgespült. Daher wird der schöne Weg kaum mehr begangen und ist total zugewachsen. Zwar sehe ich hin und wieder frische Markierungen, so dass man den Weg eigentlich gut findet, doch bei den wirklich schwierigen Passagen, nämlich die Durchquerung der ausgespülten Bachläufe des Torrente Marderello, ist nichts passiert - man hat an Farbe gespart, und ein paar kaum sichtbare Steinhaufen erstellt. 



Nur dank dem guten Wetter und viel Geduld erkenne ich nach einer Weile, wo der ideale Abstieg und Ausstieg aus dem ersten steilen, aus losem Schotter bestehenden Bachbett ist. Vorsichtig klettere ich hinunter, und unter Schweissausbrüchen auf der andern Seite wieder hoch. Doch dahinter folgt ein noch tieferes Bachbett - eigentlich ist das schon eher ein Canyon. Ich sehe bald die Steinhaufen auf der anderen Seite, doch wie soll ich hinunterkommen? Der Canyon ist mindestens 30 Meter tief, die Hänge extrem steil, ich erkenne keine Spuren, und alles bröckelt. Nachdem ich eine halbe Stunde durchs stachelige Dickicht am Canyonrand hin- und hergelaufen bin, entscheide ich mich schlussendlich für einen Abstieg, der mir am wenigsten lebensgefährlich erscheint. Zentimeter für Zentimeter rutsche ich vorsichtig auf dem losen Sand und Schotter hinab, mein Garmin Inreach steckt in der Rocktasche - für den Fall, dass ich nicht mehr vor oder zurück kann. Endlich erreiche ich den Boden des tiefen Bachbetts. Der Bach ist heute nur ein Rinnsal, doch ich bin mir sicher, bei einem Gewitter oder starkem Regen ist dies ein tobender Wildbach. Überraschenderweise (und ich danke hiermit den Trail-Göttern) ist der Aufstieg auf der anderen Seite ganz leicht. Erleichtert erreiche ich den Canyonrand auf der anderen Seite, zerkratzt und zerstochen, Haare, Nacken und Unterhosen voller stacheliger Kiefernnadeln, Kletten und Sand. Was für ein Albtraum! Dieser Weg ist definitiv nichts bei schlechtem Wetter. Bald erreiche ich die nächste Alp, erleichtert, dass es nun auf einen Fahrweg geht. Doch der anstrengende Tag ist noch nicht vorbei - die Fahrstrasse biegt scharf um eine Kurve, und dahinter verbirgt sich eine riesige Schafherde, die von zwei Herdenschutzhunden bewacht wird, die extrem genervt sind, so abrupt aus ihrem Nachmittagsnickerchen geweckt zu werden, und mich wieder innert Sekunden umzingelt haben und sich die Seele aus dem Leib bellen. Diesmal bin ich leicht besser vorbereitet (ich habe ein paar Sekunden Zeit, bevor sie mich erkannt haben), dennoch stehe ich mit dem Rücken zur Bergwand. Ganz vorsichtig bewege ich mich seitwärts, hinter mir die Felswand, vor mir die zwei knurrenden Bestien. Diesmal schreie ich nicht, halte meine Stöcke nahe am Körper, versuche, zu Boden zu schauen, statt auf die Hunde, und bewege mich im Zeitlupentempo in die Richtung, in die ich will - die einzige Richtung, in die ich kann, denn es gibt keine Ausweichmöglichkeit hier im Steilhang. Nach einer gefühlten Ewigkeit höre ich einen Hirten rufen und pfeifen, und die Hunde beruhigen sich ein wenig. Erleichtert lasse ich die Herde hinter mir und laufe mit Gummiknien weiter. Was für ein Tag! Eigentlich bin ich bedient für heute, doch erstens habe ich keine Lust, auf diesen Alpen mein Zelt aufzustellen, wo es von Herdenschutzhunden offenbar wimmelt, und ausserdem ist es viel zu steil. Also wandere ich weiter, überquere im Abendlicht die Grenze zu Frankreich, dem vorletzten Land auf dieser Wanderung. Wie habe ich mich in den letzten Tagen auf Frankreich gefreut! Endlich kann ich mich wieder verständigen, und irgendwie assoziiere ich Frankreich auch mit besserem Wetter (warum auch immer). 


Nun marschiere ich auf dem Zöllnerpfad, einem gut ausgebauten, beinahe flachen Schotterweg hoch über dem Susatal, und erreiche kurz nach Sonnenuntergang Grand-Croix am Mont-Cenis-Stausee. Hier gibt es direkt an der Passstrasse ein Gite d'etape (das französische Pendant zu den Posto Tappa). Um halb acht klopfe ich an die Tür, etwas hoffnungslos - alles sieht geschlossen aus. Doch wundersamerweise geht die Tür auf. Die Madame ist allerdings alles andere als erfreut, dass ich so spät und unangekündigt noch auftauche, und obwohl ich mich zigmal entschuldige, macht sie ein ziemlich passiv-aggressives Theater. Ich entscheide mich für den Schlafsaal, was ihr wenig Arbeit bereitet, und gebe mich mit Spaghetti bolognese zufrieden, dennoch bin ich ein bisschen desillusioniert - in Italien war es nie ein Problem, wenn man spät und ohne Reservierung ankam. Schlussendlich finden wir den Rank doch noch, und ich kriege leckeren Rohschinken als Vorspeise sowie einen übrig gebliebenen Heidelbeerkuchen zum Dessert. Mehr als happy, schlafe ich gut, obwohl der Schlafsaal ziemlich düster ist und nach Tiefgarage riecht. Ich bin der einzige Gast. Beim Frühstück unterhalten wir uns dann ein bisschen über französische Eigenheiten, und ich erfahre, dass in den französischen Alpen eigentlich bereits Ende August Saisonende ist. Die meisten Hütten machen zu, viele Hotels, Restaurants, Gites, Campingplätze und Läden ebenfalls, oder aber spätestens Mitte September. Sogar die Krankenschwestern und Apotheken, eigentlich das ganze öffentliche Leben, fährt in den Bergdörfern total herunter, bis dann die Skisaison wieder anfängt. Das sind für mich natürlich ernüchternde Neuigkeiten. Die Madame rät mir, in jedem Fall immer vorher anzurufen und zu reservieren, oder nach Öffnungszeiten zu fragen - unabhängig davon, was im Internet publiziert sei. Ein guter Rat, denn sie hat leider recht, wie ich in den nächsten Tagen erfahren werde.
Am nächsten Morgen wandere ich zunächst über eine Hochebene unter der Staumauer, die eigentlich ziemlich hässlich ist - durchzogen von einer lärmigen Passstrasse und vielen verfallenen Militärbauten, Bunkern, alten Burgmauern, Ausgucken. Der Col du Mont-Cenis ist seit Jahrhunderten ein wichtiger und umstrittener Passübergang, Dutzende von Festungen aus allen möglichen Epochen zeugen davon. Schengen hat vieles verändert, doch die französische Grenze ist immer noch streng bewacht - von einer wachsamen Armee von Hunderten Murmeltieren, die mich mit gellenden Pfiffen zu vertreiben versuchen, und durch die alten Bunker und Ausgucke wuseln. Die Franzosen können auf jeden Fall ruhig schlafen, ihre Grenzen sind sicher. Keiner kommt hier ungesehen durch, und alle haben danach Tinnitus vom Pfeifen der Murmelis.



Heute ist mein letzter Tag auf der blauen Via Alpina, und es ist ein fast langweiliger Wandertag - auf einer breiten, geschotterten Fahrstrasse geht es gemütlich zum Col du Petit Mont-Cenis. Dafür sind die Aussichten heute fantastisch, der Himmel ist stahlblau, der Stausee türkis, die Alpweiden glühen in allen Herbstfarben (ich finde auch noch recht viele Heidel- und Preiselbeeren). 



Am Horizont erkenne ich alle Gipfel rundherum, etwas, das ich seit Ewigkeiten nicht mehr hatte, und ich geniesse die wunderbaren Aussichten auf markante Felszinnen. Trotz langweiliger Routenführung wird es ein fantastischer Wandertag. Wie viel doch gutes Wetter ausmacht! 



Auf dem Pass verlasse ich die blaue Via Alpina und wandere das lauschige Tal hinunter in Richtung Brahmans.



 Hier kam angeblich Hannibal mit seinen Elefanten über die Alpen (wobei sich mehrere Alpenpässe um diese Ehre streiten). Die Einheimischen beanspruchen Hannibal gerne für sich, überall sehe ich Elefanten-Skulpturen in den Gärten der Chalets, ein ganzer Spielplatz ist ihnen gewidmet. 



Gegen Abend erreiche ich Brahmans und will noch rasch im Dorfladen einkaufen. Der ist zwar geöffnet, doch die meisten Regale sind leer, und es ist niemand da. Ich stöbere eine Weile herum und finde irgendwann meine Siebensachen, doch ich hätte gerne noch ein Bier oder einen kleinen Wein zum Mitnehmen für das Nachtessen, denn auf dem Campingplatz gibt es keine Bar. Irgendwann taucht ein lustloser Kassierer auf mit einem hyperaktiven, schreienden Kleinkind im Schlepptau. Ich frage nach einem Bier, er zeigt wortlos auf die Sixpacks im Regal. "Ich möchte nur eines, aber gerne gekühlt", erwidere ich. "Gibt nur das", meint er unfreundlich. "Haben Sie vielleicht eine kleine Weinflasche?", frage ich höflich. "Da im Regal", zuckt er mit den Schultern. Da stehen nur grosse Flaschen, und das Rotweinregal ist gänzlich leer. "Ist der Rotwein alle? Haben Sie vielleicht noch eine Flasche?" Er schlurft entnervt zum Regal, nur um festzustellen, dass da tatsächlich alles leer ist. Grummelnd verschwindet er im Lager, kommt dann mit einer Kiste Flaschen wieder - und lässt seelenruhig das hyperaktive Kleinkind die Kartonschachtel aufreissen, die Flaschen auspacken und ordentlich ins Regal einreihen. Das dauert eine Ewigkeit (eigentlich ein Wunder, dass dabei nichts zu Bruch geht), und ich bin mir ziemlich sicher, dass er das extra macht, um mich zu ärgern, weil ich ihm Arbeit verursache. Ich bin mittlerweile auch genervt, und ziehe eine Viertelstunde später mit meine mickrigen Einkäufen (inklusive einer ganzen Weinflasche, die ich nie und nimmer in einem Abend trinken werde) weiter ins Nachbardorf zum Campingplatz. Dort geht es im ähnlichen Stil weiter, die Rezeption ist nicht besetzt, darunter hängt ein Zettel mit drei unterschiedlichen Telefonnummern, die man anrufen soll. Die erste Nummer ist nicht mehr in Betrieb (bitte??), bei der zweiten kommt ein Telefonbeantworter, und bei der dritten nimmt jemand entnervt ab, um mich anzurüffeln, wieso ich diese Nummer anrufe. Als ich endlich meinen Platz beziehe und mühselig mit einem Stein die Heringe meines Zeltes in den betonharten Boden haue, kommt eine Dame aus dem Camper gegenüber und bringt mir einen Hammer. Eigentlich eine nette Geste, und ich wäre ihr auch dankbar gewesen - wenn sie nicht gleich angefangen hätte, mit mir zu schimpfen (wirklich, sie hat mich ausgeschimpft!), warum ich nicht gleich zu ihr gekommen sei, und um einen Hammer gebeten hätte, das sei ja furchtbar, zu sehen, wie ich die Heringe mit einem Stein malträtiere, also echt, sie kriegt die Krise, wenn sie mir zuschaut, und wieso ich nicht auf die Idee gekommen sei, erst mal mit den Zeltnachbarn zu reden...
Bei mir herrscht mittlerweile Alarmstufe Hochrot, und ich schaffe es nur mit Müh und Not, ihr den Hammer nicht zwischen die Augen zu hauen. Was ist nur los mit den Leuten hier? Oder habe ich einfach Pech heute? Der lumpige Campingplatz tut meiner phänomenalen Stimmung auch nicht gerade gut - es gibt kein Toilettenpapier, keine Toilettensitze, keine Seife, und die Lavabos sind so weit von den WCs entfernt, dass ich mir sicher bin, dass sich kaum jemand die Hände wäscht nach dem Klo, es ist einfach zu mühsam. Ausserdem stelle ich zu spät fest, dass der Campingplatz genau neben einem Kirchturm steht, der alle Viertelstunde laut, unregelmässig und zweimal(!?) die Glocken schlägt. Irgendwie vermisse ich Italien bereits und pfuttere den ganzen Abend über die Franzosen.
Am nächsten Morgen nehme ich mir Zeit, denn eigentlich wollte ich heute nur eine kurze Etappe bis zum Campingplatz in Modane gehen. Doch als ich die Karte etwas genauer studiere, erkenne ich, dass der dortige Campingplatz vermutlich ziemlich laut ist - er liegt zwischen einer Art Autobahn und einem Güterbahnhof. Da Regen angesagt ist auf die Nacht, prüfe ich kurz auf Booking und finde eine sagenhaft günstige Ferienwohnung in Valfrejus, einem Skiresort nur wenige Kilometer weiter, die ich ohne nachzudenken buche. Dann mache ich mich auf den Weg.



 Die ersten paar Kilometer sind noch ganz nett, doch dann lasse ich den Wanderweg, der ein paar unnötige Höhenmeter macht, links liegen und wandere auf der Strasse nach Modane. Keine meiner besten Ideen, denn es hat sehr viel Verkehr. Modane ist so hässlich, laut und nervig, dass ich so schnell wie möglich von dort weg will. Rasch kaufe ich in einem Tante-Emma-Laden ein bisschen Pasta und eine Pestosauce, da ich befürchte, dass der Dorfladen in Valfrejus geschlossen ist (es geht jedenfalls niemand ans Telefon). Dann zieht sich der Wanderweg in endlosen Serpentinen den Berg hoch, unter mir der Lärm der Stadt, und um mich herum die Schnellstrasse, die hier durch einen Tunnel nach Italien geht. Endlich biege ich in ein Seitental ein, es wird ruhiger, und dann bin ich schon in Valfrejus. Doch das Ski-Resort gleicht einer Ghost Town. Riesige Hotels, Ferienwohnungs-Silos, Dutzende Restaurants, Bars, Discos - alles ist geschlossen und verriegelt. Auch der Dorfladen hat zu. Fehlt nur noch ein trockener Busch, der langsam über die Strassen rollt... Ich rufe die Nummer der Ferienwohnung an. Dort erklärt man mir in einem horrend schnellen Französisch, welches ich nicht verstehe, wohin ich in dieser Totenstadt muss, um an den Schlüssel zu kommen. Ich frage mehrfach nach, bitte darum, langsamer zu reden - erfolglos. Schlussendlich rettet mich ein Helikopter, der irgendwelche schweren Geräte von einer Alp abtransportiert - ich kann den Helikopter sehen und höre ihn auch durchs Telefon meiner Gesprächspartnerin, also bin ich ganz nah dran. Irgendwann finde ich die Agentur, erhalte den Schlüssel und ziehe in mein winziges Apartment in einem riesigen Wohnsilo ein. Wie gruselig... wie die Zombie Apokalypse. Zu allem Elend realisiere ich, dass es am Ortsausgang ein nettes Gite d'etape gegeben hätte, welches auf meiner Karte nicht eingezeichnet war. Immerhin kriege ich dort ein Bier und werde nett begrüsst. Welche Wohltat! Danach verziehe ich mich in meine komische Ferienwohnung, koche Pasta al Pesto, haue dabei alle Sicherungen raus und muss im Stockdunkeln wieder die Wohnungsagentur anrufen, um rauszufinden, wo der Sicherungskasten ist. Schlussendlich habe ich wieder Licht und der Herd funktioniert, aber der Strom kommt nicht wieder - doof, so kann ich nicht mal mein Handy laden. Irgendwie habe ich das Gefühl, ganz Frankreich hat sich gegen mich verschworen, und ich schiebe eine kleine Motivationskrise. Es ist nicht mehr ewig weit bis Monaco, aufgeben kommt jetzt nicht mehr in Frage, aber eben doch noch viel zu weit, als dass das Ende absehbar wäre.
Am nächsten Morgen regnet es, wie angekündigt. Ich beschliesse, es bei einer kurzen Etappe zu belassen, und nur bis Granges de la Vallee Etroite zu gehen, wo es zwei Hütten hat, beide sollten offen sein. Im Regen steige ich auf einer Schotterpiste, vorbei an alten Bunkeranlagen, zum Col de la vallee etroite auf. 



Es regnet mit Unterbrüchen den ganzen Tag, und die Wolken hüllen die Berge rundum in Nebel - den berühmten Mont Thabor bekomme ich nicht zu sehen. Trotz Regen und Nebel erkenne ich die Schönheit des Vallee Etroite und bedaure, es nur bei diesem lausigen Wetter zu sehen. 



Viele Wanderer kommen mir entgegen, die meisten mit grossen Rucksäcken und Zelten bepackt - dies scheint ein beliebtes Biwak-Ziel zu sein. Ein seltsames Pärchen ist auch dabei. Die Frau schleppt eine riesige Handtasche und hat einen Picknickkorb in der Hand, der Mann einen völlig ungeeigneten Rucksack, dazu hat er sich ein riesiges, billiges Wurfzelt über die Schulter geschwungen. Beide sind total durchnässt und erschöpft. Ich vermute, es ist ihr erstes Camping-Abenteuer und frage mich, ob es auch ihr letztes Mal sein wird, oder ob es ihnen trotz der offensichtlichen Misere so gut gefallen wird, dass sie sich nächstes Mal vielleicht ein bisschen besser ausrüsten?
Schmunzelnd laufe ich weiter, mir kommen noch einige, lustige Gestalten entgegen, die bestimmt eine unbequeme Nacht im schönen Tal verbringen werden. Ich erreiche endlich den Weiler und die beiden Hütten. Eine ist bereits geschlossen, entgegen den Angaben der Webseite. Die andere ist geöffnet, doch der Empfang ist dermassen gleichgültig, dass ich am liebsten gleich rückwärts wieder rauslaufen würde. Doch angesichts der Nässe und Kälte quetsche ich mich undankbar ins volle Dormitory, wo bereits ein halbes Dutzend anderer Wanderer ihre nassen Sachen aufgehängt haben. Immerhin, das Essen ist fantastisch (es ist eine italienische Hütte, wie ich bald feststelle), auch wenn die Nacht dann heiss, stickig und schnarchig wird (aber glücklicherweise halten die Oropax gut dicht).
Der nächste Tag beginnt freundlich und sonnig, und als ich nach den ersten paar Höhenmetern zurückschaue, erblicke ich endlich den Mont Thabor. 



Aber auch sonst präsentiert sich das Tal in aller Schönheit, die Felswände, die rundherum aufsteigen, erinnern mich an die Dolomiten. Der Col de Thures ist bald erreicht, ein flacher Pass, der sich sanft nach unten neigt - und dann stehe ich plötzlich abrubt an einer Kante, unter mir bricht das Tal ab in einen steilen Canyon, der von Felstürmen zwischen den Bäumen sowie farbigen Sandschichten durchzogen ist. Es wirkt ein bisschen wie Bryce Canyon, ich bin total hin und weg. 



Leider ist der Himmel mittlerweile wieder grau, so kommen die Farben schlecht zur Geltung, doch die Felstürme (Fairy Chimneys) und der schöne Weg hinunter gefallen mir total gut. Ich schaffe es gerade noch, mein Picknick im Trockenen zu essen, bevor es wieder zu regnen beginnt, und ich den Aufstieg zum Refuge de Buffere mit Regenschirm in Angriff nehme. Dort habe ich mich ausnahmsweise angemeldet (ich habe die Nase voll von unmotivierten Begrüssungen). Tatsächlich werde ich auch sehr freundlich begrüsst, aber ich vermute, das wäre so oder so der Fall gewesen - das junge Hüttenwarte-Paar ist sehr nett, interessiert und motiviert. Es ist das erste Mal in Frankreich, dass ich mich willkommen fühle (auch wenn ich erfahre, dass alle Hütten ausser dem Refuge de Nice Mitte September schliessen). Ich bin froh, dass ich im Warmen sitze, denn am Abend schüttet es so richtig. Heute bin ich der einzige Gast. Wo sind all die Wanderer von gestern hin? Doch ich beschwere mich nicht. 



Am nächsten Morgen herrscht wieder eitel Sonnenschein, und ich erreiche den Col de Buffere noch am Vormittag. Gegenüber erhebt sich das Ecrins-Massiv mit seinen Eisriesen, Gletschern - und dem letzten Viertausender dieser Tour, der Barre des Ecrins (der südwestlichste Viertausender der Alpen). Was für ein schöner Anblick! 



Der Abstieg hinunter nach Le-Monnetier-les-Bains dauert zwar länger als gedacht, aber es stört mich nicht, denn ich habe die ganze Zeit eine wunderbare Aussicht. Weiter unten im Tal fühle ich das erste Mal, dass ich nun im Süden bin - die Vegetation ist definitiv etwas mediterran. Das Dorf ist jedoch enttäuschend, alles ist geschlossen (ich bin allerdings auch zur Siesta-Zeit dort). Da ich nicht dringend einkaufen muss, gehe ich gleich weiter und nutze den wunderschönen Tag. Am Nachmittag steige ich auf zum Col de l'Eychauda. Der liegt zwar bereits im Parc National des Ecrins, trotzdem wird er von einem Skigebiet verschandelt. Der Abstieg hinunter ins Val de l'Eychauda ist dafür umso schöner, das Tal bildet ein riesiges, flaches Plateau - eigentlich perfekt zum Biwakieren. 


Doch gerade, als ich einen schönen Platz ausgesucht habe, höre ich es von Weitem: die Schafherden kommen für die Nacht ins Tal, zusammen mit den Schutzhunden. Nun sehe ich auch überall die alten Steinmauern und Zäune. Mist! Es ist bereits sieben Uhr, bald wird es dunkel. Ich laufe nun rasch talabwärts, in der Hoffnung, beim Weiler Chambran etwas geeignetes zu finden. Dort hat es zu meiner Überraschung eine Bar (sehr einfach), in der eine Gruppe freundlich grüssender Männer sitzt. Ich frage sie, ob sie hier die Hirten sind, sie bejahen und zeigen mir den "offiziellen" Biwakplatz, etwa hundert Meter neben der Bar, sehr schön am Fluss gelegen, und laden mich ein, noch etwas zu trinken. Ich geniesse noch ein Gläschen Wein mit den Hirten, freunde mich mit den Hunden an, in der Hoffnung, dass sie mich nun zur Herde zählen (es gibt Wölfe hier), und stelle dann im letzten Tageslicht mein Zelt auf. 



Ich finde es total super, dass die kleinen Dörfer hier "offizielle" Biwakplätze haben (es ist nur eine Wiese, mehr nicht, aber man fühlt sich einfach willkommen).
Am nächsten Tag wandere ich zunächst ins hübsche, offensichtlich beliebte Vallouise, wo ich einen Grosseinkauf mache. Doch dann plane ich spontan um - ich will etwas abkürzen und durchs Tal direkt nach Ceillac laufen, statt die vielen Schlenker und Höhenmeter der Via Alpina noch alle mitzumachen. So langsam will ich nämlich auch ankommen, ausserdem habe ich die Nase voll von Frankreich und will wieder nach Italien. Somit hätte ich die schweren Einkäufe besser erst am Abend erledigt, aber es geht zum Glück nur bergab, bzw. geradeaus. Am Nachmittag erreiche ich L'Argentiere-La-Besse und mache mir dort auf dem Campingplatz einen gemütlichen Abend. Der Platz ist nicht gerade lauschig (er liegt direkt neben einer Schnellstrasse, und natürlich wieder keine Seife, kein WC-Papier), doch die vielen Pappeln mit ihren bereits gelb gefärbten Blättern erinnern mich an Argentinien. 



Am nächsten Morgen regnet es stark, so dass ich "ausschlafe", bis die Sonne rauskommt und alles trocknet. Heute will ich nicht sehr weit, nur bis Guillestre. Fast der ganze Tag verläuft auf Wald- und Wiesenwegen, oft geteert, doch zwischendurch finde ich einen schönen Wanderweg, der mir auch ein paar schöne Ausblicke auf die Durance und den Burghügel von Mont-Dauphin bietet. 



Guillestre wäre eigentlich ganz hübsch, doch an einem Sonntagabend herrscht total tote Hose. Als ich im Dorf ankomme, sind nur zwei Bars geöffnet, in denen scheinbar lauter Alkis sitzen. Meine Unterkunft, eine Art Hostel, ist auch verlassen, man erklärt mir am Telefon, wie ich reinkomme, wo ich die Bettwäsche finde, etc. Das Haus ist riesig und ich bin scheinbar der einzige Gast - etwas unheimlich. Immerhin habe ich ein Einzelzimmer mit Bad, für 22 Euro stört es mich da nicht sonderlich, dass ich mein Bett selber beziehen muss. Auf der Suche nach einem geöffneten Restaurant ziehe ich diverse Kreise durch das ausgestorbene Dorf, und in der einen Bierkneipe erhalte ich nur eine patzige Antwort auf meine Frage nach einem Restaurant. Erst als ich ein grosses Bier bestelle, wird der Typ etwas freundlicher und erklärt mir, wo ich einen Burger oder Pizza bekomme. Als ich danach dort vorbeischaue, ist es tatsächlich geöffnet - und die Leute stehen schon Schlange. Kein Wunder, sonst ist ja alles zu! Ich verstehe die Franzosen echt nicht. Es hat wirklich noch genug Touristen in der Gegend, als dass es sich lohnen würde, zu öffnen. Mir scheint, als wolle hier einfach keiner mehr arbeiten ab September. 



Aber sei's drum - ich bekomme einen Tisch, einen herrlich leckeren Burger mit feinen Bratkartoffeln und Salat, eine Creme brulee und ein Glas Wein - ich bin happy. 
Am nächsten Morgen suche ich wieder einen direkteren Weg nach Ceillac, wenn möglich nicht auf der Strasse - und finde einen unoffiziellen Wanderweg (nicht ausgeschildert) entlang einer traditionellen Wasserleitung, wie eine Suone. Der Weg ist super, wird offensichtlich gepflegt und regelmässig begangen, vermutlich, um die Wasserleitung zu warten, denn auch die ist gut im Schuss. 



Dann allerdings wird es doch recht abenteuerlich und luftig, und als ich nach mehreren Stunden die Wasserleitung verlasse, sehe ich dort ein Schild, dass dies ein Privatweg und das Wandern verboten sei. Tja. Das hätten sie mal unten anschreiben sollen... 😉
Die letzten Kilometer gehe ich dann auf der Strasse, doch es ist nicht mehr weit. Gerade, als ich den Dorfeingang von Ceillac erreiche, öffnet der Himmel seine Schleusen, und eiskalter Regen fällt. Gefühlt innert Sekunden sinkt die Temperatur um 10 Grad. Ich steuere das Gite d'Etape an, doch oh weh - geschlossen. Auch alles andere im Dorf ist zu: Bars, Cafes, Restaurants. Nur der Dorfladen öffnet um vier wieder, so harre ich tapfer in der Kälte aus (glücklicherweise hat die Kirche ein grosses Vordach), bis ich im Laden noch meine Einkäufe tätigen kann. Denn dies ist für lange Zeit der letzte richtige Laden, und mein Rucksack ist entsprechend sehr, sehr schwer, als ich Richtung Camping Municipal davonwanke. Der Camping ist dafür eine sehr positive Überraschung: er hat einen überdeckten Platz für die Wanderer und Velofahrer zum Kochen und Essen, und die Sanitäranlagen sind geheizt. Mittlerweile hagelt es nämlich fast, es ist eiskalt geworden und der Regen hört erst gegen 20 Uhr auf. Bevor die Nacht hereinbricht, zeigen sich die Berge nochmals im Abendlicht - alles weiss verschneit, und zwar ziemlich tief runter! 


Es wird eine eisige Nacht, obwohl ich vor dem Schlafengehen noch heiss dusche und dann direkt in den Schlafsack krieche. Irgendwann schlafe ich ein, obwohl mir die Nase fast abfriert. Das Aufstehen am Morgen ist ziemlich brutal, aber glücklicherweise kommt die Sonne recht bald über den Berg, alles dampft und der Rauhreif auf den Wiesen verschwindet rasch. Ich packe alles zusammen und marschiere los, das gibt warm. Der Aufstieg zum Lac de Miroir ist steil und führt durch den Wald, mein Rucksack drückt schwer auf die Schultern. Endlich erreiche ich den See - er ist wunderschön und lässt mich die Anstrengung sofort vergessen! Die Wiesen um den See sind noch schneebedeckt, der Himmel blau, die Lärchenwälder rundherum gelbgrün - ein super Kontrast. 



Die guten Picknickplätze in der Sonne sind bereits besetzt, ich steige also noch weiter zum Lac Sainte Anne, der noch schöner sein soll. Der Weg dorthin führt wieder durch hässliche Skianlagen, und als ich endlich den See erreiche, hängen bereits wieder graue Wolken über den Bergen. So kommt das tiefe Türkisblau des Sees und die Spiegelung der Berge leider gar nicht zur Geltung. Trotzdem mampfe ich hier mein Picknick, in der Hoffnung, dass sich die Wolken noch verziehen. 



Das tun sie nicht wirklich, aber dafür ist die Aussicht in die Berge, aus denen ich komme, wunderschön. 


Der letzte Stieg zum Col Girardin auf fast 2700m ist dann recht giftig, und mein schwerer Rucksack tut mir weh - Schultern, Hüftgurt, alles schneidet ein und schmerzt. Dieser Rucksack ist einfach nicht für schwere Lasten gemacht. Der Abstieg nach Maljasset ist dafür dann wieder wunderbar. Hunderte von Murmeltieren grasen wie kleine Rasenmäher auf den Wiesen, sie haben offenbar jegliche Scheu vor Wanderern verloren. Die Sonne scheint nun wieder und lässt die trockenen, herbstlichen Hänge goldgelb leuchten. Tief unter mir sehe ich das hübsche Steindörfchen, mein Ziel für heute, und gegenüber den Col de Mary und Italien - dorthin geht es morgen. 



Nach einem steilen, letzten Abschnitt erreiche ich mit klapprigen Knien die Wanderhütte in Maljasset. Ob ich reserviert habe, fragt man mich. "Nein", erwidere ich ruhig, ich bin ja darauf vorbereitet, zu zelten, wenn die Hütte voll ist. "Macht nichts, trotzdem herzlich willkommen!", sagt der Hüttenwart. So einfach ist das. So wenig braucht es, damit man sich wohlfühlt als Wanderer, und nicht als Last. Ich danke ihm, bestelle ein Bier und geniesse den letzten Abend in Frankreich. Zwar ist das Nachtessen eher durchschnittlich (mit Ausnahme eines fantastischen Schokokuchen), aber wir sitzen alle an einem Tisch, es wird aus einer grossen Schüssel geschöpft, wie ich das von Schweizer Hütten kenne. So komme ich mit meinen Tischnachbarn ins Gespräch und es wird ein schöner Abend, welcher mich fast versöhnt mit dem vorletzten Land meiner Tour. Nun geht es aber nochmals ein paar Tage nach Italien, bevor ich dann ein letztes Mal Frankreich betrete und dann - nur noch 100 km Luftlinie - bin ich in Monaco!

Kommentare