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Nebel und andere Piemonteser Spezialitäten



Wanderlust 2021, Woche 33-35: 
Als ich gegen Mittag in Brig eintreffe, scheint im Wallis die Sonne, obwohl heute eine mehrtägige Kaltfront inklusive Regen die Schweiz erreichen soll. Sollte sich der Wetterbericht tatsächlich einmal zu meinen Gunsten irren diesen Sommer? Doch ich freue mich zu früh. Gerade als ich mit der Gondelbahn in Rosswald eintreffe, zieht es zu - und zwar schnell. Ich laufe trotzdem los, heillos optimistisch, dass es gleich wieder aufhellt, doch das Wetter ist eher der Meinung, dass heute bereits um 14 Uhr die Nacht anbrechen sollte, so dunkel wird es plötzlich. Ich kann mich gerade noch unter dem letzten Hausdach von Rosswald unterstellen, als ein sintflutartiger Regen losbricht, der alsbald in Hagel übergeht. Es blitzt und donnert eine ganze Weile, und unter dem Hausdach läuft bald ein Bach durch. 




Als es endlich nachlässt, laufe ich los in Richtung Simplon. Naiverweise hatte ich gehofft, heute noch bis zum Pass zu kommen, doch ich werde eines Besseren belehrt. Obwohl der Weg nicht sonderlich schwierig ist, und recht flach verläuft (es ist ein schöner und teilweise luftiger Höhenweg entlang einer alten Suone), komme ich nicht in die Gänge. Irgendwann scheint zwar wieder die Sonne, aber es hat abgekühlt, ein heftiger Wind zieht mir um die Ohren. Meinen Vorsatz, endlich wieder mal im Zelt zu schlafen, finde ich nun nicht mehr so prickelnd. Bei den heftigen, eisigen Böen würde es gewiss eine schlaflose Nacht. 




Kurz vor sechs Uhr erreiche ich die Bortelhütte und frage, ob noch ein Bett frei ist. Tatsächlich ist mehr als genug Platz, nur drei Wanderer sitzen beim Znacht, daher darf ich - nach einigem Hin und Her-Telefonieren, da dies gegen die Corona-Vorschriften der Hüttenchefin verstösst - auch ohne Reservation übernachten. Ich bin etwas irritiert über die frühen Essenszeiten, muss mich wieder umstellen - es ist nicht Italien, wo man auch auf den Hütten nie vor 19.30 isst. Obwohl ich unangemeldet komme, darf ich noch die Überreste des Znachts der anderen Wanderer aufessen (das tönt armselig, ist es aber nicht - es war mehr als genug und sehr lecker). Weil wir nur so wenige sind, habe ich einen ganzen, riesigen Schlafsaal für mich alleine und schlafe gut. Nur mit Sternegucken wird es nichts, draussen ist es zu kalt, und bald ist der Himmel auch wieder bewölkt.
Am Morgen herrscht dichter Nebel, als ich aufbreche. 




Das ist eine Weile ganz schön, man nimmt die Natur anders wahr, wenn man nur wenige Meter weit sieht. Allerdings bin ich beim Wandern stark aussichtsmotiviert, d.h. wenn ich nichts sehe ausser den Büschen und Steinen am Wegrand, verlässt mich die Motivation für jegliche Anstrengung. Und wenn ich dann auch noch weiss, dass ich fantastische Ausblicke verpasse, ist die Stimmung bei mir rasch im Keller. So auch heute morgen. Glücklicherweise lichten sich die Wolken im Verlauf des Vormittags, und ich werde mit fantastischen Aussichten aufs Fletschhorn, den Dom und den Monte Leone belohnt. Erst am Nachmittag erreiche ich den Simplonpass. 





Auch heute ist die Wanderung eigentlich wenig anstrengend, dennoch fühle ich mich erschlagen und komme nicht vom Fleck. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich mich verkalkuliert habe - ich ging irgendwie davon aus, dass Simplon Dorf mehr oder weniger gleich hinter dem Pass liegt, und wollte dort Brot zum Zmittag einkaufen. Ein ernsthafter Blick auf die Karte hätte mich eines Besseren belehrt. So aber starre ich nur fassungslos auf die Zeitangaben nach Simplon Dorf, als ich am Pass stehe. Das wird ja Abend, bis ich dort ankomme, und die Läden werden bereits geschlossen sein! Also kaufe ich ein Pack überteuerter Chips im Souvenirgeschäft und nerve mich stumm, wieso die Verkäuferin so lange braucht, den Preis ausfindig zu machen, denn ich bin umringt von Plüschmurmeltieren, die bei Bewegung wie Machos pfeifen (was für eine Travestie), und schlimmer noch, einem älteren Lüstling, der das ganz offenbar "très chouette" findet, und alle Plüschtiere im Laden schüttelt, während er die junge Verkäuferin und mich begafft. Brrrr....

Ab hier folgt die Via Alpina eine Weile dem Stockalperweg, der überraschend schön ist (ich bin immer skeptisch bei Wanderwegen entlang stark befahrener Passstrassen). Natürlich hört man ab und zu den Verkehr lärmen, aber erstaunlich selten, angesichts der Massen an Schwerverkehr, die hier drüber rauscht. Der alte Saumweg führt durch schön restaurierte Weiler, vorbei an Prachtbauten der Stockalper und Brücken von Napoleon. 




Auf einer lauschigen Alp steht ein Foodtruck, wo ich mich völlig kaputt auf eine Bank plumpsen lasse und mir ein Feldschlösschen gönne, obwohl ich immer noch eine Stunde laufen muss. Was ist nur los heute? Habe ich mich in der einen Wanderwoche mit Chantal dermassen vom Gewicht meines vollen Rucksacks entwöhnt? Als ich in Simplon Dorf ankomme, verschwindet gerade die Sonne hinter dem Berg, und es geht wieder ein kräftiger Wind - heute jedoch ein warmer Südwind. Sieht so aus, als würde man die Kaltfront hier nicht gross bemerken. Ich gönne mir ein Hotel im Dorf, morgen früh muss ich dringend einkaufen, die nächste Gelegenheit wird sich erst in etwa 4 Tagen ergeben. Im Hotel Fletschhorn geniesse ich ein leckeres Cordonbleu, gefüllt mit Aprikosen und Walliser Ziger, und dazu einen Salat. Am Morgen plündere ich den winzigen Dorfladen, der gleichzeitig auch Drogerie, Bibliothek und sozialer Treffpunkt ist. In der Bäckerei erstehe ich ein leckeres Körnerbrot und einen Pistazienschnegg. Leider wird es für lange Zeit das letzte gute Brot sein, welches ich bekomme. Dann ziehe ich endlich los, zunächst weiter bergab Richtung Gondoschlucht, doch kurz davor biegt die Via Alpina ab und klettert über einen niederen Pass, die Furggu, ins Zwischbergental. Auch dieses "Pässchen" verlangt mir alles ab, ich brauche viel länger als die angegebene Zeit, bis ich oben bin. Mehrmals muss ich rasten. Hoffentlich kommt bald wieder etwas Energie in meine müden Beine! Immerhin lohnt sich ein Blick zurück, denn ich habe eine tolle Aussicht auf den Weissmies, den ich leider in den folgenden Tagen zwar ganz nahe passiere, aber in den Wolken nicht mehr zu Gesicht bekommen werde. 


Auf der Furggu angekommen, verlasse ich die Via Alpina für ein paar Tage, denn ich möchte noch etwas näher an die Walliser Viertausender ran, so hohe Berge werde ich auf dieser Tour sonst nicht mehr von nah zu sehen bekommen. Anstatt das Zwischbergental nur zu queren, folge ich ihm talaufwärts und biege nach ein paar Stunden ab Richtung Passo di Andolla an der italienischen Grenze. Ich folge nun einige Tage dem Sentiero Italia, einem gigantischen Fernwanderweg, der sich über 7000km (nein, das ist kein Tippfehler!) durch ganz Italien zieht. Kurz vor dem Pass finde ich auf der Alpe Porcareccia ein flaches Plätzchen und stelle mein Zelt auf. Bereits am Abend hüllen mich die Wolken ein, doch es bleibt warm und der kräftige Wind, der mir in den letzten Tagen das Zelten vergrault hat, bleibt heute aus.




Am Morgen herrscht wieder dichter Nebel, als ich aufbreche. Hier im felsigen Gelände bin ich sehr froh um die fast übertrieben häufigen Wegmarkierungen. Zumindest auf Schweizer Seite. Denn sobald ich den Passo di Andolla erreiche, ist es vorbei damit. Die Italiener haben sich damit begnügt, alle paar 100 Meter einen farbigen Klecks auf die Felsen zu sprayen. Da der Weg nicht allzu oft begangen wird und teilweise fast unsichtbar ist, wäre ich ohne GPS im dichten Nebel verloren. 




Nun machen sich die langen Winterabende vor dem PC bezahlt, als ich diverse Varianten zur Via Alpina evaluierte und mir alle Tracks, die ich potenziell benötigen würde, auf mein Mobiltelefon geladen hatte. Aber auch mithilfe des Handys, welches ich alle 5 Minuten überprüfe, geht es nicht schnell voran. Nach einer Weile kommen mir ein paar Wanderer entgegen, die vom Rifugio Andolla gestartet sind, und ebenso mit dem Nebel kämpfen. Immerhin bin ich nicht die Einzige, die hier rumstolpert. Nach dem Rifugio zweigt mein Weg auf einen noch schmaleren, noch seltener begangenen Weg ab, und ich hoffe sehr, das wird nicht noch schlimmer, während ich durch tropfnasse Wiesen und glitschige Bergbäche stolpere. Endlich lichtet sich der Nebel ein bisschen, und ich sehe das Tal unterhalb der Alpe di Andolla vor mir. Es ist ein schönes Tal, doch ich steige nun auf zum Passo delle Coronnette und bald verschwinde ich wieder in den Wolken. Den dramatischen Aufstieg zum Pass und die umliegenden Dreitausender kann ich nur erahnen. Nur ein schöner Bergsee taucht mal klar sichtbar vor mir auf, doch in der Waschküchenatmosphäre kommt keine Badestimmung auf. 




So zieht sich der Aufstieg ewig hin. Ich verliere den Weg mehrfach und navigiere mittels Handy wieder zurück, wo er eigentlich sein sollte, aber es spielt keine grosse Rolle - mittlerweile sind um mich herum fast nur noch gigantische Steinplatten, es gibt hundert Möglichkeiten, durch dieses Labyrinth zu balancieren. Ein junges Paar kommt mir entgegen, ebenfalls recht schwer bepackt, und ziemlich atemlos. Sie fragen mich, ob ich von den Ketten wüsste. Ketten? Was für Ketten? "Oh, it is very difficult! And you will be going down them, it will be horrible!", sagen sie, das Mädchen mit wahrem Terror in den Augen. Nun erinnere ich mich an den Hinweis auf dem Wegweiser, irgendwo weit zurück beim Rifugio Andolla. Dort stand was von "catene" und "solo experti". Aber das stand auch auf der Etappe nach Binn, und dies war ein superschöner Weg, der Chantal und mir sehr gefallen hatte. Ich wische ihre Bedenken weg und ächze weiter. Endlich stehe ich oben am Pass. Oder eher an einer Klippe, denn wie in einem schlechten Hollywoodfilm lichtet sich der Nebel ganz kurz, um den Blick auf die senkrecht abfallende Wand und einen türkisblauen See tief, tief unter mir freizugeben. Bevor ich die Kamera richtig fokussiert habe, ist schon wieder alles eingenebelt. Und dann sehe ich die gewaltige Eisenkette, die man oben um einen Felszahn geschlungen hat, und die senkrecht nach unten im Nebel verschwindet. Okidoki.... Ein bisschen Horror-Trip-Feeling darf natürlich an so einem Nebeltag nicht fehlen. Insbesondere ist es gut zu wissen, wie tief ich stürzen werde, auch wenn ich den Boden nicht mehr sehen kann. 


Ein schmales Felsband führt zur Kette. Ich atme tief durch, packe die Stöcke weg, zurre den Rucksack so fest wie es geht, und balanciere auf dem Felsband zur Kette. Sie ist eisig kalt und nass vom Nebel. Mit dem Gesicht zur Wand beginne ich, mich langsam an der glitschigen Kette abzuseilen. Anders kann man es nicht beschreiben, denn ich finde nicht immer einen guten Halt mit den Füssen und der einen, freien Hand, ich muss voll auf die Kette vertrauen. Die hängt sehr lose, was mich anfangs ängstigt, doch bald erkenne ich, dass es nötig ist, denn man muss sich daran hin- und herschwingen, um sichere Tritte oder Griffe in der Wand zu finden. Nach etwa zehn Metern kommt ein Haken, und die nächste Kette beginnt. Wieder zehn Meter, die nächste Kette. Es geht gefühlt endlos so weiter, mir pumpt mittlerweile nicht nur das Adrenalin durch die Adern, ich bin auch völlig ausser Atem, und meine rechte Hand zittert vor Erschöpfung. Ich habe nicht mitgezählt, wie viele Ketten-Sektionen es sind. Gefühlt waren es mindestens 100, eher 150 Meter. 

 


Endlich kommt der letzte Kettenteil, und damit man sich den Passo delle Coronnette wirklich verdient hat, ist dieser Abschnitt auch noch leicht überhängend. Ich bin sehr, sehr erleichtert, als ich endlich am Ende der letzten Kette ankomme, diese loslasse, und einen Schritt auf normalem Wanderweg mache. Offenbar sind meine Beine zu Gummi geworden, denn ich stolpere gleich, und schlage mir das Knie blutig. Bravo, Kathrin!




Der restliche Abstieg ist zwar weiterhin sehr steil und anstrengend, aber ein Klacks dagegen. Endlich bin ich unten am Stausee und laufe über die Staumauer. Es ist zwar erst 17 Uhr, doch ich bin fix und fertig. Es passt daher prima, dass es hier eine Biwakschachtel des italienischen Alpenvereins hat. Zwar bin ich wieder unter dem Nebel, aber nur knapp, und nach dem anstrengenden Tag würde ich jetzt einfach gerne ausruhen, statt auf dem felsigen Grund nach einem Zeltplatz zu suchen. Das Bivacco ist sehr neu, es riecht noch ganz angenehm nach frischem Holz. Innen sind neun Betten, die sehr sauber wirken, sowie ein grosser Tisch und zwei Bänke unter einem riesigen Panoramafenster aufs Tal hinaus. Ein wunderschönes Biwak, und ich überlege keine zwei Sekunden. Hier bleibe ich. Ich marschiere noch kurz zum nächsten Bergbach, um etwas Wasser zu filtern und eine Katzenwäsche zu machen, dann verziehe ich mich in die kuschelige Biwakschachtel. Ein Solarpanel bietet sogar Licht und eine USB-Steckdose, um das Handy zu laden. Ein paar Gaskanister und Vorräte sind auch noch da. Zum Kochen habe ich zwar genug Essen dabei, aber ich gönne mir eine grosse Kanne Tee nach dem abenteuerlichen Tag. Eine schöne Abendstimmung und ein mystischer Mond über dem Stausee und dem Biwak verzaubern den Abend. Von hier unten sieht der Passo di Coronnette ganz harmlos aus. Ich bleibe der einzige Gast diese Nacht und geniesse das Biwak ganz für mich alleine.




Am nächsten Morgen ist alles wieder in dichten Nebel gehüllt. Es scheint, als hätte mir die Via Alpina nach dem vielen Altschnee im Frühsommer, dann endlosem Regen und Gewitter im Hochsommer nun einen neuen Endgegner geschickt: der Nebel. Die Wolken hängen seit Tagen zwischen 2000 und 2500 Metern, also genau da, wo die Via Alpina meist verläuft. Ich laufe stets in oder knapp unter einer Wolkenbank. Über die Wolken komme ich kaum, und darunter sehe ich meist nur, wie talabwärts irgendwo eitel Sonnenschein herrscht.
Heute morgen laufe ich knapp unter den Wolken los, unten im Antronatal scheint die Sonne. Das stört mich vorerst nicht, denn der Sentiero Italia verläuft heute morgen durch einen Tunnel im Berg. Jawohl, richtig gelesen. Für einmal muss ich nicht über, sondern durch den Berg laufen. Bis zum Tunnel folge ich stillgelegten Minengleisen, die erst abenteuerlich steil bergab führen, dann horizontal der Bergflanke entlang folgen. 



Nach einer Weile kommt der Tunneleingang, ich hieve eine rostige alte Eisentür auf und hoffe sehr, dass ich die Türe am andern Ende auch aufkriege. Der Tunnel gehört den Elektrizitätswerken, denen auch die beiden Stauseen gehören, welche der Tunnel verbindet. Der Tunnel wird grösstenteils durch ein riesiges Rohr ausgefüllt, am Rand bleibt knapp Platz für eine schmale, nicht zu grosse Person, um bequem zu gehen. Immerhin in der Höhe passe ich gut rein, in der Breite schrammen Rucksack und Ellbogen ein paarmal über die feuchten Felswände. Glücklicherweise ist der Tunnel beleuchtet, wenn auch schwach. Nur mit Taschenlampe zu gehen wäre definitiv gruselig, denn der Tunnel ist fast 3 km lang, und ich laufe 40 Minuten lang durch das düstere Loch im Berg. Nichts für Klaustrophobe! Der Boden ist von tiefen Pfützen durchsetzt, die zu gross sind, um drüberzuhüpfen, und so habe ich mal wieder nasse Füsse, als ich durch die dunkelbraunen, stinkenden Gumpen stiefle. Wäh... Ansonsten ist es im Berg fast ganz still, nur das Wasser tropft an einigen Stellen, und manchmal knackt und rauscht das riesige Rohr neben mir. 



Nach einer gefühlten Ewigkeit erreiche ich das andere Ende und steige wieder ans grelle Tageslicht. Definitiv ein sehr spezielles Highlight meiner Wanderung! Der Weg führt nun über einen weiteren Staudamm und entlang einer Wasserleitung, bevor es wieder in gewohnter Sentiero-Italia-Manier steil und fast weglos bergauf in die Wolken geht. Der Ofentalpass ist mit 2833m einer der höchsten, den ich bisher überquert habe, und besteht zuoberst fast nur aus losem Geröll. Irgendwann verliere ich die wenigen Markierungen im Nebel aus den Augen und folge einer vagen Spur sowie ein paar Steinmännchen im Schotter. Es wird immer steiler und rutschiger, ich wechsle in den Allrad-Antrieb (Hände raus und alles festhalten, was sich greifen lässt). Endlich stehe ich oben, keuchend und ausgepowert. Doch da lichtet sich der Nebel plötzlich auf der Schweizer Seite und gibt den Blick frei auf das sanft abfallende Ofental und die Viertausender rund um Saas Fee: Strahlhorn, Rimpfischhorn, Allalinhorn, Alphubel und Täschhorn lassen sich blicken. Wow! Nach so vielen Stunden im Nebel freue ich mich riesig, dass sich dieser anstrengende Aufstieg gelohnt hat.



Ich hüpfe fast das Ofental hinunter vor Freude. Dann biege ich links ab in Richtung Monte-Moro-Pass, zurück nach Italien, nach diese kurzen, aber spektakulären letzten Kilometern auf Schweizer Boden. Im Aufstieg sehe ich viele Murmeli und einen Adler, allerdings schlaucht mich der zweite Pass des Tages auch sehr. Ausserdem ist es schon spät, die Sonne ist bereits hinter dem Rimpfischhorn verschwunden, und es wird schlagartig eiskalt. Hmmmm.... Biwakieren auf dieser Höhe scheint mir jetzt eine ziemlich dumme Idee, obwohl es bis vor kurzem noch angenehm warm war. Völlig erschöpft erreiche ich den Monte-Moro-Pass mit seinen 2853m und verlasse die Schweiz das letzte Mal auf dieser Tour. Ciao Svizzera! Kaum erklimme ich die letzten Meter, lichten sich die Wolken auch auf der andern Seite des Passes und geben ein Prachtspanorama auf den Monte Rosa frei, auf dem die Abendsonne noch strahlt. Was für ein Anblick! Glücklicherweise hat es gleich hinter dem Pass eine Hütte, das Rifugio Oberto. Ich eile unter den Armen der riesigen Madonna hindurch die Steinstufen hinunter zum Rifugio und habe wieder unglaubliches Glück: Es hat nur wenige Gäste, ich bekomme einen ganzen Schlafsaal für mich alleine, und wasche mich schnell noch, bevor ich direkt an den riesigen Panoramafenstern ein ausgezeichnetes Abendessen geniesse. Draussen färbt sich der Monte Rosa erst orange, dann rosa, dann lila, dann silbrig - der Mond geht auf. Ein Wahnsinnsspektakel, ich vergesse fast, zu essen. 




Nach dem Essen stehe ich draussen auf der Terrasse und geniesse kurz die geniale Nachtstimmung (es wird nun schon wieder viel früher dunkel), bevor meine Zähne zu klappern beginnen. Danach schlafe ich herrlich, bis morgens um fünf irgendwelche Bergsteiger mit einem Riesenlärm aufstehen, mit den Türen schlagen und durch die ganze Hütte brüllen. Ich bin gerade wieder eingeschlafen, als sie um sechs vom Frühstück zurückkommen und mich erneut wecken. Definitiv genervt, stehe ich auf und geniesse nochmals einen wunderschönen Blick auf den Monte-Rosa im Morgengrauen. Noch während ich frühstücke, zieht es bereits wieder zu, das Nebelmeer aus dem Tal steigt auf bis zur Hütte, und als ich loslaufe, bin ich wieder in den Wolken. Erst gegen Mittag kommt die Sonne wieder raus. 



Heute steige ich endlos lange ab nach Macugnaga, einer italienischen Walsersiedlung am Fuss des Monte Rosa. Es soll eine kurze Etappe werden, denn ich möchte auf dem Campingplatz noch Wäsche waschen und einfach etwas in der Sonne liegen nach den anstrengenden letzten Tagen. Der Abstieg dauert allerdings länger als geplant, denn um Muskelkater zu vermeiden, steige ich die 1700 Höhenmeter langsam, mit vielen Pausen und in kleinen Schritten ab. Erst am Nachmittag erreiche ich den kleinen, aber feinen Campingplatz, aber die Wäsche ist zum Glück bald erledigt, und ich geniesse tatsächlich einen langen, schönen Feierabend im warmen Tal. Abends taucht Gerhard, ein deutscher GTA-Wanderer auf, und wir unterhalten uns bis spät in die Nacht hinein. Er ist für mich eine super Informationsquelle für die nächsten Etappenh, und ausserdem sind er und seine Frau auch begeisterte Radtourenfahrer, so haben wir einander viel zu erzählen.
Am nächsten Morgen nehme ich es gemütlich und starte viel später als gewohnt, mein Zelt hat sogar Zeit, in der Sonne zu trocknen. Nach einem kurzen Abstecher in den Dorfladen für frisches Brot und ein paar Snacks biege ich ins Val Quarazza ein. Wenn möglich will ich heute noch über den Passo di Turlo und auf der andern Seite biwakieren. Das anfangs schön flache Tal ist offenbar beliebt für einen Sonntagsspaziergang, und die ersten zwei Stunden komme ich mir vor wie auf einer Völkerwanderung. Sobald der Wanderweg ernsthaft anzusteigen beginng, wird es aber wieder schlagartig einsam.


Bereits gegen Mittag zieht es wieder zu, die Wolken verbergen die Gipfel, und am Nachmittag beginnt es zu regnen. Die letzten paar Stunden bis zum Pass laufe ich wieder "blind" in den Wolken. Es ist jedoch ein breit angelegter Saumpfad, leicht zu gehen. Endlich, es ist bereits Abend, erreiche ich den 2738m hohen Turlo-Pass. Eine weitere Madonna wacht am Übergang, diesmal jedoch nur eine kleine. Auf dem Abstieg stehen plötzlich mehrere Steinböcke direkt vor mir auf dem Weg und pfeifen empört, als sie mir Platz machen sollen (denn im steilen Hang kann ich leider nicht so gut ausweichen wie sie). Weiter unten sehe ich eine ganze Herde. Wunderschön! 



Es sind die ersten Steinböcke, die ich von Nahem sehe auf der Via Alpina, und ich filme und fotografiere sie eine Ewigkeit. Nun lichten sich auch die Wolken und ich geniesse einen schönen Ausblick auf die Berggipfel der nächsten Tage, bevor es erneut zu regnen beginnt und alles einnebelt. Daher steige ich nun rasch ab, auf der Suche nach einem geeigneten Zeltplatz. Doch entweder sind die Hänge zu steil, oder es hat bereits Kühe drauf. Ich hoffe auf weiter unten und laufe weiter, obwohl ich eigentlich völlig erledigt bin und es auch bald dunkel wird. Schlussendlich erreiche ich das Rifugio Pastore, welches fast unten im Tal steht, und neben dem man auch zelten kann. Perfekt! Denn so kann ich gegen eine kleine Gebühr die Duschen und das WLAN benutzen und kann mich abends in die Hütte setzen, um etwas zu trinken. Kurz bevor es dunkel wird, stelle ich rasch das Zelt auf. Unten im Tal ist es noch gemütlich warm, während auf den hohen Pässen bereits eisige Temperaturen herrschen. Am Morgen geniesse ich das leckere Frühstück des Rifugio und die tolle Aussicht auf die Südseite des Monte Rosa-Massiv - denn frühmorgens ist der Himmel wieder blau, die Sonne scheint. 



Auch heute breche ich erst spät auf und trockne erst mein Zelt und die feuchten Sachen, bevor ich weiterwandere. Es geht nun ein paar Stunden talabwärts nach Alagna und dann der Strasse entlang bis Riva Valdobbia. Die Gegend scheint beliebt zu sein, denn Alagna ist sehr touristisch. Den ganzen Morgen donnern Helikopterrundflüge zum Monte Rosa durch das Tal. In Riva Valdobbia kaufe ich noch rasch etwas Proviant ein, bevor die Läden zur Siesta schliessen, und biege dann ins Val Vogna ein. 




Hier führt die Via Alpina der Strasse entlang, und auch dieses Tal ist ein beliebtes Ausflugsziel. Mehrere Stunden gehe ich auf der schmalen Teerstrasse, doch es stört mich nicht - manchmal bin ich ganz froh, nach den anstrengenden Bergetappen einen "leichten" Wandertag vor mir zu haben, an dem ich nicht gross auf die Füsse schauen muss, und einfach nur laufen kann. 



Gegen Abend erreiche ich das letzte Dörfchen und das Ende der Strasse, doch ich gehe noch etwas weiter talaufwärts, damit die nächste Etappe nicht so lang wird. Heute ist das Wetter nämlich schön und es bleibt trocken, obwohl die Gipfel ab Mittag wieder von den Wolken verhüllt sind. Gegen sieben Uhr finde ich auf der Alpe Pioda einen schönen Zeltplatz, auf dem gerade keine Kühe weiden, und geniesse eine angenehme Nacht in den Bergen. Am nächsten Morgen steige ich auf zum Passo del Maccagno. Heute sind die Wolken ziemlich hoch, so habe ich wenigstens Aussicht auf die Berge rund um mich herum, obwohl mir die Sicht auf Monte Rosa und Liskamm verwehrt bleiben. 




Der Abstieg hinunter nach Gaby im Val de Gressoney ist lang und steil. Es ist zwar erst 16 Uhr, als ich Gaby erreiche, doch der Himmel verdunkelt sich plötzlich, es sieht nach Regen aus. Statt noch weiter zu gehen, finde ich online ein supergünstiges Zimmer, buche sofort und laufe im Eilschritt in das Hotel. Kaum bin ich durch die Tür, geht ein heftiges Gewitter nieder. Uff! Mein Zimmer ist zwar winzig und uralt, der Empfang eher frostig, aber ich bin froh um eine Dusche und ein trockenes Bett. Das Dorf ist irgendwie seltsam, es wirkt ausgestorben, obwohl zwei riesige Hotels davon zeugen, dass hier früher mal der Bär getanzt haben muss. Im andern Hotel gibt es noch ein Restaurant und eine traurige Bar, in der ein paar Gäste sitzen, die so aussehen, als wären sie seit den siebziger Jahren hier. Aber die Pizza schmeckt super, und obwohl man in meinem Hotel jeden Mucks der andern Gäste durch die Wände hört, schlafe ich irgendwann ein.
Am nächsten Tag laufe ich in den Nachbarort Issime zum Einkaufen, bevor ich wieder aufsteige zum nächsten Pass. Die blaue Via Alpina ist irgendwie anstrengender als die rote, denn mir scheint, die italienischen Täler sind tiefer und die Pässe dazwischen höher als alles, was ich bisher gewandert bin. Täglich steige ich 1300 oder mehr Höhenmeter auf. Heute geht es zunächst steil durch den Wald aufwärts, bevor sich der Wanderweg etwas flacher ein Seitental hinaufwindet zu den hochgelegenen Alpen und zum Colle Dondeuil. Doch es ist ein schöner, abwechslungsreicher Weg, vorbei an vielen verlassenen, aber auch einigen bewohnten und gepflegten Steinhäusern.



Kühe, Ziegen, Pferde und Esel weiden auf den Alpen, dazwischen wuseln ein paar fette Murmeltiere. Auch heute hängen die Wolken wieder auf Passhöhe, und als ich am späten Nachmittag den Colle Dondeuil erreiche, sehe ich nichts als graue Wolken. Gemäss Peakfinder müsste man hier eine traumhafte Aussicht haben - bis zum Mont-Blanc. Daraus wird nichts, aber als ich absteige, lichten sich die Wolken und ich erkenne immerhin die Gipfel rund um den Monte Avic, den ich in den nächsten Tagen umrunden werde.




 Allerdings erkenne ich auch bald, dass ich auf den Alpen Dondeuil keinen Zeltplatz finden werde, denn überall sind Kühe. Danach folge ich eine Weile der Strasse, ebenfalls unmöglich zu zelten. Endlich biegt der Wanderweg von der Strasse ab, doch was anfangs ein schöner Pfad ist, endet bald in einer undurchdringlichen Sackgasse. Ein Blick aufs Navi zeigt mir, dass ich vor ein paar Hundert Meter eine scharfe Kurve verpasst habe, also gehe ich zurück. Die "Kurve" ist kaum als solches erkennbar, der Weg total zugewuchert. Nur mit Mühe kann man überhaupt erkennen, dass hier mal ein Weg durchführte. Doch ich habe keine Lust, nochmals aufzusteigen und auf der Strasse weiterzugehen, also schlage ich den Weg ein. Meistens sind solche Abschnitte nur kurz. Alle paar Minuten zücke ich das Handy, um zu überprüfen, ob ich noch auf dem richtigen Weg bin, denn der Pfad ist nicht erkennbar. Nun liegen auch noch umgestürzte Bäume im Weg, und alles ist mit Lianen und Brennesseln überwuchert. Es wird ein schmerzhafter und mühsamer Abstieg, und hier kann ich definitiv nicht zelten, ich habe auch gar kein Wasser mehr. Was auf dem Handy noch wie eine gute Wander-Stunde bis ins Tal aussah, entpuppt sich als mehrstündiger, praktisch wegloser Abstieg durch steilen, teilweise fast undurchdringlichen Wald. Wie sehr wünsche ich mir eine Machete! Doch zwischendurch lichtet sich der Wald und ich stehe plötzlich auf einer Klippe mit fantastischem Tiefblick nach Challand-St-Victor und das Aostatal noch weiter unten. Es regnet ein bisschen, und die Abendsonne zaubert einen wunderschönen Regenbogen über das wilde, undurchdringliche, grüne Tal, durch welches ich mich gerade schlage.



Irgendwie magisch, obwohl ich mir wünsche, endlich wieder auf die Strasse zu kommen. Es ist fast acht Uhr, als mein Wunsch in Erfüllung geht. Nun ist es nicht mehr weit bis ins Dorf Challand St Victor, und so nahe der Zivilisation will ich nicht mehr zelten, darum aktiviere ich meine letzten Energiereserven und eile ins Dorf, in der Hoffnung, ein Zimmer zu finden. Es dunkelt gerade, als ich in der ersten Bar frage, ob es hier ein Hotel gibt. Die Dame will mich erst noch ein paar Kilometer weiter ins nächste Dorf zu einem B&B schicken, doch als sie meinen Gesichtsausdruck sieht, verwirft sie die Idee. Ich frage, ob ich irgendwo zelten kann. Klar, meint sie, unten auf dem Dorf-Spielplatz, sie ruft sogar den Bürgermeister an, und fragt, ob dies in Ordnung sei. Kein Problem, heisst es, es hat sogar eine öffentliche Toilette dort, wo ich mich waschen kann. Daher bestelle ich gleich noch ein Bier, einen grossen Teller Pasta und ein Dessert hinterher. Ich stelle fest, dass hier auch französisch gesprochen wird, das Aosta-Tal ist zweisprachig. Das passt mir gut, denn mein Italienisch ist jämmerlich. Im Dunkeln wandere ich zum Spielplatz, der noch hell erleuchtet ist, denn hier befindet sich auch das Bocchia-Feld, auf dem die Senioren bis elf Uhr nachts lautstark krakeelen, während die Enkel auf den Schaukeln spielen. Keiner stört sich daran, dass ich daneben mein Zelt aufstelle, und als sie schliesslich nachhause gehen, verbringe ich eine ruhige Nacht - bis morgens um vier Uhr die Sprinkler auf dem Rasen angehen, auf dem mein Zelt steht, die hatte ich natürlich übersehen.
Heute versuche ich, etwas früher aufzubrechen, denn es wird ein sonniger und warmer Tag, und ich durchquere heute das Aostatal.



Doch der Abstieg ins Tal beschäftigt mich den ganzen Vormittag, erst gegen Mittag erreiche ich den Talboden. Nun muss ich einige Kilometer der Hauptstrasse folgen - es werden die vermutlich gefährlichsten Kilometer meiner Wanderung bisher, denn die Autos kommen mit 100 km/h angeschossen, und es hat nur einen kleinen Randstreifen. Dummerweise erwische ich wohl genau die Zeit, in der alle Italiener hungrig zum Mittagessen nachhause rasen. Endlich verlasse ich die Hauptstrasse und steige auf ins nächste Seitental. Da der Wanderweg viele unnötige Höhenmeter macht, um bis nach Covarey aufzusteigen, und es ausserdem brütend heiss ist, bleibe ich auf der Fahrstrasse. Das ist zwar genauso heiss und praktisch schattenfrei, jedoch wenigstens ohne Gegenstieg. Ausserdem hat es nur wenig Verkehr. Am Strassenrand finde ich viele Brombeeren, die richtig schön süss sind. 




Gegen Abend erreiche ich Covarey und frage im Infozentrum des Naturparks Monte Avic nach Übernachtungsmöglichkeiten. Das Zelten ist im Park verboten, doch im Weiler gibt es ein Hostel, wo man mir ein Bett organisiert - ich habe den ganzen Schlafsaal für mich alleine. Daher geniesse ich einen frühen Feierabend, wasche ein paar Kleider aus und trinke in der Bar des teuren Wellness-Hotel noch ein Bier. Das Hostel hat eine Küche, und ich habe zum Glück noch genug zu Essen dabei, um mir etwas leckeres zu kochen. Am nächsten Morgen steige ich weiter auf. Ich bin nun direkt am Fusse des Mont Avic und wandere die nächsten zwei Tage in diesem Naturpark. Das Wetter ist trocken und recht sonnig, und ich geniesse eine frühe Mittagspause an einem wunderschönen Bergsee, bevor die Wolken wieder alles verhüllen. 






Auch heute kann ich nur dank dem Peakfinder erahnen, welche fantastischen Aussichten mir entgehen, und muss mich mit den schönen Seen, den knorzigen Bergwäldern und riesigen Granitplatten zufrieden geben. Ein bisschen erinnert mich diese Umgebung an eine schöne Mehrtageswanderung, die ich vor Jahren mit Sven im Yosemite Nationalpark unternommen habe. Es riecht auch ganz ähnlich würzig nach Pinien. Nur die Kühe passen nicht ganz ins Bild, dafür muss ich hier keine Bärenbox über die Pässe buckeln. Hinter dem Colle di Lago Bianco hüllt mich der Nebel vollends ein, und ich wandere umhüllt von Wolken zum zweiten, namenlosen Pass des Tages. Ab und zu lichtet sich der Nebel und gibt Blicke frei auf hübsche Bergseen, ein paar andere Wanderer, Kuhherden, einsame Alpen und felsige Gipfel. Bestimmt wäre diese Gegend ein Traum bei klarer Sicht. Heute muss ich mich mit wenigen Momenten der Schönheit zufrieden geben. Abends erreiche ich das Rifugio Dondena. Da sich die Wolken nun hartnäckig festgesetzt haben, wird es rasch eisig kalt, sobald die Sonne verschwindet, und ich frage nach einem Schlafplatz. Wieder bekomme ich einen ganzen Schlafsaal für mich alleine. Zwar gibt es hier nur kalte Duschen, aber im Gastraum bullert ein Ofen und trotz der eisigen Schnellwäsche wird mir bald wieder wohlig warm. Das Abendmenü ist wie immer auf den italienischen Hütten reichlich und sehr lecker: es gibt eine kleine Vorspeise, einen riesigen Pastateller, danach einen Poulet-Eintopf und leckeren Salat, und zur Nachspeise eine Art Linzertorte. Dazu einen leckeren Hauswein, und ich rolle ins Bett und bin schon eingeschlafen, bevor ich richtig den Kopf aufs Kissen gebettet habe.
Die Via Alpina würde nun in etwa 3 Etappen eine riesige Schleife durchs Valle di Cogne drehen, bevor sie über einen sehr hohen Pass wieder nach Südosten zurückschlauft. Auf der Via Alpina-Webseite steht hier: "Route in Überarbeitung" - seit 2013. Die Kommentare sind ebenfalls fast allesamt 10 Jahre alt und wenig erbaulich: "Der Weg ist kaum vorhanden" - "Bei Schlechtwetter dringend abzuraten" - "man braucht doppelt so lange, wie angegeben" - "Völlig unpassierbar". Auch Gerhard, der GTA-Wanderer, den ich in Macugnaga getroffen habe, hat mich vor diesem Abschnitt gewarnt. Da das Wetter die nächsten Tage genau gleich sein wird wie die letzten paar Wochen, nämlich trocken, aber bewölkt (und somit in der Höhe neblig), suche ich mir eine kürzere, weniger gefährliche Variante. Gleich hinter dem Rifugio Dondena führt der Colle di Larissa direkt ins Valle Soana. Ich finde keine Infos über den Pass im Internet, aber da er nicht sehr hoch ist, hoffe ich, ihn ohne Probleme zu überqueren. Ausserdem führt vom Rifugio eine Schotterstrasse auf den Pass, was zwar etwas langweilig, aber definitiv gut begehbar und ungefährlich ist. Kurz vor dem Pass komme ich an einem Skilift vorbei, an der ein Arbeiter werkelt. Ich habe mal wieder versehentlich einen Zimmerschlüssel entführt und frage ihn, ob er per Zufall nach der Arbeit beim Rifugio vorbeikommt und den Schlüssel dort abgeben kann. Das macht er gerne, doch als er erfährt, wo ich hinwill, werden seine Augen gross, und er warnt mich vor dem schwierigen, schmalen Weg auf der andern Seite des Passes. Leicht beunruhigt steige ich weiter, mittlerweile ist bereits wieder alles in Wolken gehüllt.



 Als ich am Wegrand anhalte für eine Pinkelpause, sehe ich neben meinem Fuss ein Edelweiss. Oh wie schön! Und da ist noch eins! Und noch eins! Und dort ein ganzes Büschel! Erst fotografiere ich wie wild, doch bald schon verfliegt der Enthusiasmus, hier hat es so viele Edelweisse, dass ich bald nur noch ein müdes Lächeln für "Ach, schon wieder ein halbes Dutzend Edelweiss" aufbringe. 



Der Pass ist bald erreicht, und ich betrete den Nationalpark Gran Paradiso. Der Weg ins Tal ist zwar schmal und steil, aber weitaus besser als mancher Weg, den ich in den letzten Tagen gegangen bin, und definitiv leicht auffindbar, da gut markiert. Es kommen mir auch einige Wanderer entgegen, der Pass scheint also regelmässig begangen zu werden. 



Nach zwei Tagen mehr oder weniger pausenlosem Aufsteigen aus dem Aostatal habe ich nun wieder einen endlosen Abstieg vor mir bis ins Val Soana. Erst geht es über karge Berghänge, dann kommen aber schon bald Weiden in Sicht, und damit auch Murmeltiere, Kühe, Esel, Schafe und Ziegen. Weiter unten komme ich an einer Bergbeiz vorbei, welche offenbar ein beliebtes Ausflugsziel ist, denn nun wimmelt es von Wanderern, insbesondere Familien mit Kindern und Leuten, die offenbar sonst wenig zu Fuss gehen, denn ich werde andauernd von keuchenden Spaziergängern gefragt, wie weit es noch sei. Mein Italienisch ist zwar nur mässig, aber ich hoffe, mein "Solo cinque minuti!", gefolgt von einem ermutigenden Lächeln, motiviert die meisten zum Weitergehen, auch wenn ich keine Ahnung habe, wohin sie wirklich wollen. Etwas weiter unten steht eine riesige, leuchtorange Bank mitten in der Wiese. Sie ist so gross, dass ich auf einen Felsen klettern muss, um sie zu erklimmen, und wie in einem Liegestuhl drin hänge, dennoch beschliesse ich, dass dies der ideale Picknick-Spot sei - ein enormer Fehler, denn natürlich wollen auch alle Kinder und verliebten Pärchen samt Hunde auf die Bank klettern, um dort rumzuklettern oder sich zu fotografieren. Das führt dazu, dass alle mir mühselig über die Beine und belegten Brötchen krabbeln, denn der Aufstieg auf die Bank ist wirklich recht sportlich, was aber viele - wie ich auch - erst merken, als sie sich hochstemmen müssen. Ich packe bald genervt zusammen. 




Der Abstieg nach Ronco Cavanese zieht sich in die Länge, doch dort finde ich ein schönes, ganz neues Hotel mit Halbpension für einen sehr vernünftigen Preis. Das Abendessen ist köstlich und reichlich, wie immer in letzter Zeit: es gibt eine leckere Käse-Vorspeise, einen superfeinen Pasta-Teller "Mille Gusti", und eine Milanese mit feinem Rüebligemüse. Danach muss ich mich gleich ins Bett rollen, und obwohl die Musik in der Hotelbar noch bis in die Morgenstunden weiter wummert (es ist Samstagabend), schlafe ich selig den Schlaf der Gerechten.
Auch in den tiefsten Tälern des Piemonts sind offenbar die Läden auch am Sonntag offen, daher hole ich mir nach dem Frühstück eine neue Sonnencreme, eine Banane, etwas frischen Käse und ein trockenes Brötchen für mein Picknick. Diese Dorfläden sind toll, denn sie haben alles - aber man muss genau wissen, was man will, denn meist kann man sich nicht selber bedienen, sondern muss alles an der Theke verlangen (einmal hat man mir wirklich auf die Finger gehauen, als ich selber einen Pfirsich aus dem Früchteregal nehmen wollte).
Auch heute steige ich wieder über 1000 auf einen Pass. Die ersten paar Stunden zickzackt der Weg steil durch den Wald, bevor ich endlich über die Baumgrenze komme und die rasch hinter den Wolken verschwindende Aussicht geniesse. Himbeeren, Brombeeren und ein paar verbleibende Heidelbeeren versüssen mir den Aufstieg. Kurz vor dem Pass verlaufe ich mich noch, weil ich einem Kuhpfad folge, und zu spät realisiere, dass der Wanderweg völlig woanders lang geht. Schlussendlich muss ich mich wieder ein paar Hundert Meter durch den Busch schlagen, um auf den kaum sichtbaren Weg zurück zu kommen und verschwende eine Stunde Zeit und Energie. 



Wieder erreiche ich den Pass erst am Nachmittag und mache mich auf den langen, steilen Abstieg. Der Weg windet sich in Serpentinen über steile Weiden, und dann - etwas überraschend - durch einen Birkenwald hinunter, an einer Wallfahrtskirche vorbei ins Dörfchen Talosio. 




Dort suche ich gleich die Trattoria und frage nach "Posto Tappa", der Wandererunterkunft für den GTA. Die Besitzerin ruft ihre halbwüchsige Tochter, drückt ihr ein paar Leintücher in die Hand und weist mir an, ihrem Kind zu folgen. Das lustlose, trotzige Mädchen führt mich durchs ganze Dörfchen, durch enge Gassen und Treppen zu einem alten Haus am Dorfrand, dem alten Schulhaus. Darin hat man eine Wandererunterkunft gebaut. Im Erdgeschoss stehen ein paar Stockbetten, im Obergeschoss hat es ein paar Zimmer und ein Bad. Das Mädchen wirft die Leintücher auf ein Bett, drückt mir das Toilettenpapier in die Hand und rauscht ab. Ich richte mich mit den frischen Leintüchern auf dem am wenigsten gammeligen Bett ein, nehme eine überraschend angenehme, heisse Dusche und laufe zurück zur Trattoria fürs Abendessen. Dort werde ich im wahrsten Sinne des Wortes gemästet. Bereits die Vorspeise besteht aus vier Tellern: Rohschinken, Tonnata, Tomaten-Mozzarellasalat, russischer Salat. 



Ich bin eigentlich bereits satt, da folgt der Pastateller (Penne Bolognese) und danach noch der Secondi, ein Fleischeintopf, und zur Nachspeise frische Trauben. Das halbe Dorf versammelt sich im Verlauf des Abends in der Trattoria, es scheint der Lebensmittelpunkt des kleinen Dörfchens zu sein. Vollgestopft stapfe ich im Dunkeln zurück zum alten Schulhaus, mit meiner Stirnlampe bewaffnet, denn es ist zapfenduster. Vor der Schule lösche ich die Stirnlampe, um den Sternenhimmel zu bewundern. Da raschelt plötzlich etwas unter dem Picknicktisch auf dem Vorplatz. Neugierig leuchte ich mit der Stirnlampe hinter den Tisch - es ist definitiv ein grösseres Tier, und es quiekt leise, bewegt sich jetzt aber nicht mehr. Ich mache ein Foto mit dem Handy, da rennt das Viech plötzlich weg, und im düsteren Licht der Stirnlampe erkenne ich - ein Wildschwein-Ferkel! Bevor ich realisiere, was ich da vor mir habe, ist es bereits um die Ecke verschwunden. Ich muss die Fotos studieren, um wirklich sicher zu sein, was ich da soeben gesehen habe. Tatsächlich, mein erstes Wildschwein! Ich bin aber sehr froh, dass es nur ein kleiner Frischling war, und ich jetzt nicht in mein Zelt kriechen muss, sondern die Türe hinter mir zu machen kann.
Der nächste Morgen beginnt, wie immer diese Tage, mit strahlendem Sonnenschein. Nach dem Frühstück verlasse ich Talosio und steige durch lichten Wald und Wiesen auf den ersten Pass des Tages. Diesen erreiche ich noch vor Mittag und erhasche sogar kurz einen Blick auf ein paar schneebedeckte Eisriesen im Osten, bevor die Wolken alles verhüllen.





Danach zappelt der Weg eine Weile in der Höhe über steile Kuhweiden, bevor ich steil zu einem Stausee absteige. Die Wege hier sind oft kaum sichtbar und erfordern viel Konzentration, und ich brauche eine Pause, bevor ich zum zweiten Pass aufsteige. Gerade als ich es mir unter der Staumauer bei einem Brunnen gemütlich mache, um einen Kaffee zu kochen, kommt mir ein anderer Wanderer entgegen, der ebenfalls einen grossen Rucksack trägt und ziemlich kaputt aussieht. Ich frage ihn, ob er ebenfalls den GTA geht, und er bejaht. Es ist ein Deutscher, der eine Woche auf dem GTA unterwegs ist. Ich habe das Gefühl, der GTA wird hauptsächlich von Deutschen begangen, denn bisher habe ich noch keine einheimischen Wanderer getroffen, die mehrere Tage unterwegs sind. Er setzt sich erschöpft neben mich und fragt, ob das jeden Tag so hoch hinauf und wieder runter geht. Es ist sein zweiter Tag, und er sieht schon völlig fertig aus. Ich habe leider keine guten Nachrichten für ihn. Immerhin warnt er mich, dass die Route am nächsten Tag völlig zugewuchert und von umgestürzten Bäumen blockiert ist. Dies hatte ich bereits aufgrund der (zwar veralteten) Kommentare der Via Alpina Webseite vermutet, und es bestätigt mich in meiner Absicht, die nächste Etappe auf der Strasse im Tal zu gehen. Wir verabschieden uns schon bald, denn es ist für beide noch weit, und der Nachmittag bereits fortgeschritten. Als ich den zweiten Pass erreiche, heule ich fast, als ich sehe, wie tief hinunter ich muss. Es ist das Eine, zu wissen, dass man am Ende eines anstrengenden Wandertages noch 1300m absteigen muss, und das andere, mit eigenen Augen die ganze, steile Strecke vor sich zu sehen. Im Abendlicht erkenne ich tief, tief unter mir das Dorf San Lorenzo, wo ich noch hin will (und muss - unmöglich, in diesem steilen Gelände einen Zeltplatz zu finden). 




Zu allem Elend fängt es noch an zu regnen, während der Weg zunächst für eine halbe Stunde den steilen Berghang quert (und dabei noch ein paar unnötige Höhenmeter macht), bevor er sich endlich bequemt, mich talwärts zu führen. Wenigstens führt nach ein paar hundert Höhlenmetern ein gut begehbarer Weg in gleichmässigen Serpentinen durch den Wald ins Tal. Während der sanfte Regen aufs Blätterdach über mir rauscht, höre ich ein paar Kapitel in meinem Hörbuch-Krimi. Endlich erreiche ich das Dorf. Es wirkt sehr ärmlich, viele alte Steinhäuser sind halb eingestürzt, doch es ist bewohnt, denn aus vielen Türen und Ställen höre und rieche ich Ziegen, Hühner, Hunde und Katzen. In der Luft liegt der Geruch von Holzfeuer, und während ich auf Steintreppen durch enge Gassen zur Trattoria absteige, fühle ich mich an Guatemala oder Peru erinnert. In der Trattoria führt man mich über einen langen Balkon in den Hinterhof zu einem Schlafsaal, den ich für mich alleine habe. Eine heisse Dusche mit einem abenteuerlich verkabelten Boiler weckt die Lebensgeister, und das Nachtessen ist wie immer ein Traum aus einheimischen Leckereien. Heute stellt man mir eine riesige Weinflasche ohne zu fragen gleich mit auf den Tisch und ich bediene mich freudig. Bereits der Antipasti-Teller ist so gross, dass ich fast schon satt bin: Thunfischsalat, eingelegte Sardellen, lokaler Käse, Frischkäse und Tomaten mit Konfi, eingelegte Zwiebeln, gegrillte Auberginen. 



Nach den Gnocchi mit einem sauer-cremigen Käse bitte ich darum, den dritten Gang zu streichen. Stattdessen stellt man mir einen selbstgebrauten Kräutergrappa (gleich die ganze Flasche) und einen Kaffee hin. Dafür liebe ich Italien! Zwar muss ich gestehen, dass mich die ewigen Wolken und die anstrengenden Wanderwege hier langsam zermürben, aber das Essen ist einfach der Hammer und macht alles wieder wett. Ich mag gar nicht mehr zelten, bei den feinen Leckereien, die es immer gibt.
Am nächsten Morgen lasse ich den Wanderweg links liegen und steige auf der Fahrstrasse ab ins Val Locana, wo ich rechts abbiege und talaufwärts laufe. Ein paar mal versuche ich es noch, auf den Wanderweg zu wechseln, gebe es aber nach kurzer Zeit auf - es macht einfach keinen Spass, wenn man keine Machete hat. Auf der Strasse ist zum Glück nicht allzu viel Verkehr, und ich komme alle Stunde durch mindestens ein Dörfchen mit von wildem Wein umrankten alten Steinhäusern, sehr malerisch. Meine Mittagspause verbringe ich auf einem Felsen am Fluss, die Füsse im Wasser, denn hier unten im Tal brennt die Sonne und es ist sehr warm. Erst am späten Nachmittag steigt die Strasse so richtig an und windet sich zwischen gigantischen Felsbrocken hindurch. Es sieht aus wie im Val Bavona. Überall sehe ich Abzweiger zu Kletterwänden. 



Am frühen Abend erreiche ich Ceresole Reale, an einem Stausee am Ende des Tals, und steuere den dortigen Campingplatz an. Ein schöner Platz, gut geeignet für Zelte, ruhig gelegen. Auch heute regnet es ganz kurz, doch mein Zelt steht bereits, und während ein paar Tropfen fallen, springe ich unter die Dusche. Heute abend koche ich endlich mein italienisches Fertigpasta-Gericht, welches ich seit einer Woche mit rumschleppe, doch es schmeckt leider scheusslich. Das erste Mal auf dieser Tour muss ich einen Rest wegschmeissen, weil ich es nicht runterkriege, obwohl ich noch eine frische Zucchetti aus dem Dorfladen und ein Rest Walliserwurst drangeschnippelt habe. Ich kann die Italiener verstehen, dass sie keine Energie auf solche Tütengerichte verschwenden, wo man doch sonst so gut isst hier. Zum Zelten ist das natürlich doof, denn es bedeutet, dass ich vermutlich Pesto im Glas oder sonst was Schweres in der Art mit rumschleppen muss, will ich auch im Zelt gut essen...
Da Sven in zwei Tagen Geburtstag hat, und es von hier aus eine brauchbare Busverbindung gibt, werde ich für ein paar Tage nachhause fahren. Nach einer Weile habe ich den komplizierten Busfahrplan geknackt und bin mir ziemlich sicher, dass am nächsten Morgen um halb elf ein Bus talabwärts zu einem Bahnhof fährt, von wo aus mich eine Regionalbahn nach Turin bringt. Daher kann ich gemütlich ausschlafen, ein leckeres, noch warmes Aprikosen-Gipfeli aus der Campingbar geniessen und das Zelt trocknen, bevor ich abreise. Tatsächlich kommt ein Bus zur angegebenen Zeit, und nach einer Ewigkeit komme ich am Nachmittag in Turin an. Da es mir nicht gelungen ist, online ein Zugticket zu buchen, habe ich mir ein billiges Hotel in der Nähe des Hauptbahnhofs gebucht und will mir am Nachmittag die Stadt ansehen, vielleicht noch ein bisschen was shoppen und ein Ticket kaufen, bevor ich am Donnerstag nachhause fahre. Doch als ich in Turin ankomme, bin ich völlig überfordert von der Hitze und der Zivilisation. Natürlich gehe ich die zwei Kilometer vom Bahnhof Porta Susa bis Porta Nuova zu Fuss, und fühle mich ein bisschen wie Katniss, als sie zu den Hunger Games ins Kapitol fährt (ich habe in den letzten Tagen das Hörbuch "Tödliche Spiele" gehört). Die prachtvollen Turiner Boulevards, mit ihren lauschigen, von Bäumen bewachsenen Mittel-Streifen (immerhin - Schatten!), und die Arkaden voller teurer Läden, die nutzlose Dinge verkaufen, die ausnahmslos schönen, elegant gekleideten Menschen, die überall am Essen, Trinken, Telefonieren und Flanieren sind - es ist zuviel für mich. Ich komme mir schäbig und dreckig vor in meinem staubigen Wanderrock, meinen unrasierten, braungebrannten Beinen, meinem fleckigen, riesigen Rucksack, und dem löchrigen T-Shirt mit Schweissrändern. Zwar habe ich am Abend zuvor geduscht und die Haare gewaschen, doch mir scheint, als rümpfen alle die Nase ob mir, als wäre ich eine Obdachlose (na gut, ganz unrecht haben sie ja nicht). Erst als ich in die Strasse hinter dem Bahnhof abbiege, in der mein Hotel liegt, passe ich besser in die Umgebung - hier ist Klein-Afrika-Karibik-Asien, und offenbar auch die Flaniermeile der Transvestiten. Mein Hotelzimmer wird von Chinesen vermietet, doch es ist sauber und hat eine Klimaanlage, die ich sofort einschalten muss, denn im Zimmer herrschen mindestens 30 Grad. Nach einer Weile wage ich mich ohne Rucksack nochmals auf die Strassen Turins. Der Bahnhof ist weiträumig abgesperrt und von hunderten Polizisten in Kampfmontur und lässigen Sonnenbrillen besetzt. Wegen einer Demo, sagt man mir. Ich hatte mindestens einen Terror-Anschlag erwartet ob dem gewaltigen Aufgebot. Irgendwann finde ich dann doch den Ticketschalter, und nach einer Ewigkeit anstehen ergattere ich auch ein Ticket für den nächsten Tag. Danach flaniere ich ein bisschen durch die Stadt, doch es ist zu heiss zum Spazieren und die Läden reizen mich nicht, obwohl ich eigentlich noch ein Geburtstagsgeschenk für Sven suche. Schlussendlich beschliesse ich, dass ich das Geschenk bin, und dazu ein schöner Stein und eine bunte Feder, die ich seit Tagen rumschleppe, und setze mich in eine kühle Bar, während ich das lustige Treiben auf den Strassen beobachte. Ein paar junge Frauen posen vor der Handykamera, fast eine Stunde lang flanieren sie die Strasse vor der Bar auf und ab wie Supermodels, auf Schuhen, in denen ich keine zwei Schritte gehen könnte, und mit so glänzenden Haaren, dass sie aussehen wie eine Shampoowerbung. Offenbar gehören sie zu einem schicken Klamottenladen in der Strasse, denn sie tauchen immer wieder in andern Fummeln auf. Ich finde es amüsant, aber in den letzten Tagen habe ich so ein anderes Italien gesehen, dass mir diese Stadt wie eine komische Kunstwelt vorkommt. War ich so lange in den Bergen, dass ich die Grossstadt nicht mehr ertrage? Immerhin einen Vorteil hat das ganze: Abends finde ich, nach einigem Suchen, ein Restaurant ganz in der Nähe meines Hotels, welches keinen Kebap oder lustige Texmex-Sushi-Experimente anbietet, sondern ein italienisches Dreigängemenü, wie ich es mir mittlerweile gewohnt bin, nur hat es diesmal viele fleischarme oder gar vegetarische Optionen dabei. Ich setze mich hin und bestelle eine Fischmousse-Vorspeise, dann einen Pastateller mit einer Zitrus-Sauce und als Hauptgang eine Gemüsepastete (in der es möglicherweise ganz wenig Fleisch hatte, ich habe leider nicht alles verstanden). Jedenfalls sehr lecker, alles. 



Mein Hotelzimmer ist nun gut abgekühlt und obwohl die Laute aus meinem Nachbarzimmer mich vermuten lassen, dass dies ein Love-Hotel ist, schlafe ich doch recht gut, bevor ich mich noch im Halbdunkel auf den Weg zum Bahnhof mache. Die Heimreise ist lang, aber ereignislos, mal abgesehen von einer halbstündigen Verspätung. Sven hat ein paar leckere Steaks und Salat vor der Tonne gerettet, und so ziehen wir am Abend noch los zur Feuerstelle auf der Fröhlichsegg, gleich um die Ecke bei uns, und machen eine wunderschönen Grillabend im Wald, mit romantischer Aussicht auf das Appenzeller Land. 



Zu seinem Geburtstag am nächsten Tag wünscht er sich eine Säntisüberschreitung, was mir sehr gelegen kommt (nein, ich habe das Wandern noch nicht satt!). Einer der gröbsten Verfehlungen der Via Alpina - aus meiner gänzlich subjektiven Sicht - ist nämlich, dass man den Alpstein ausgelassen hat. Das holen wir jetzt nach und fahren frühmorgens mit Zug und Bus zur Schwägalp, von wo wir über Tierwis auf den Säntisgipfel aufsteigen. 



Dort gönnen wir uns ein leckeres Zmittag, Sven schlemmt Chäshörnli mit Apfelmus, ich Röschti mit Salat. Dann steigen wir über die Wagenlücke und Mesmer zum Seealpsee und nach Wasserauen ab. Es ist eine lange, aber wunderschöne Tour, und ohne schweren Rucksack fühle ich mich wie ein junger Hüpfer, erst kurz vor dem Ziel zwackt es langsam in den Beinen (sind ja auch immerhin wieder 1700m Abstieg). 



Als wir zuhause ankommen, warten bereits Svens Vater mit Partnerin auf uns, die extra mit dem Campingbüsli von Thüringen hergefahren sind, um mit uns zu feiern. Sie haben kistenweise leckeres, bayrisches Bier mitgebracht, und natürlich Rotkäppchen. Wir stossen noch auf dem Parkplatz an, bevor wir ins Haus gehen. Zum Znacht gönnen wir uns ein leckeres Asia-Gericht beim Foodtruck unserer Nachbarin, und der Abend vergeht im Nu bei gemütlichem Beisammensein. Am Samstag unternehmen wir zu viert eine Wanderung im Alpstein, heute geht es auf die Alp Sigel, jedoch gemütlich mit der Bahn. 



Abends grillieren wir erneut im Garten, Norbert und Beate haben Thüringer Bratwürste mitgebracht. Während die andern am Sonntag ihren Muskelkater pflegen und baden gehen, geniesse ich einen Ruhetag im Garten und schreibe endlich diesen Blogbeitrag. Abends fahren wir zum Alten Zoll für eine super Pizza. Auch heute geniesse ich nochmals den sonnigen Garten, schreibe diesen Blogbeitrag fertig und plane meine Rückreise. Morgen geht es wieder nach Italien, zurück nach Ceresole Reale. Von dort hoffe ich, innerhalb etwa fünf Wochen das Meer und Monaco zu erreichen, idealerweise bei weiterhin warmem und trockenem Wetter. Auf der Karte sieht es nun wirklich nahe aus, doch es liegen noch viele tiefe Täler und hohe Pässe dazwischen.
Mehr Fotos der letzten paar Wochen findet ihr wie immer auf Polarsteps.

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