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Tausend Tessiner Täler




Wanderlust 2021, Woche 31: 
Am Sonntag, den 1. August breche ich im strömenden Regen daheim auf, um den Rückweg ins Misox anzutreten, wo ich zuletzt meine Via Alpina-Wanderung unterbrochen habe. Auf den Nachmittag ist Wetterbesserung angesagt, aber im Moment klatscht der Regen an die Zugfenster, und es ist schwer zu glauben, dass im Süden die Sonne scheinen soll. Zu allem Elend hält mein Zug wieder mitten im Rheintal an wegen Personenunfall, und die Ersatzbusse werden sich verspäten - mein Anschluss nach Südbünden ist weg. Erst ärgere ich mich masslos (das ist nun das dritte Mal auf dieser Via Alpina-Tour, dass ich im Rheintal im Zug steckenbleibe oder mühselig umgeleitet werden - entweder habe ich furchtbar Pech, oder die SBB ein ernsthaftes Problem im Ribelmais-Land). Durch die Verspätung komme ich allerdings tatsächlich erst in Pian San Giacomo an, als der Nachmittagsregen durch ist. Es ist zwar kühl, aber die Sonne scheint. Also nicht unbedingt ein Nachteil, diese ungewollte Verzögerung. 



Am Abend steige ich noch auf zur Alp de Curtas, die ich kurz vor dem Eindunkeln erreiche. Die Besitzer der obersten Alphütte haben nichts dagegen, dass ich mein Zelt neben ihrer Hütte aufstelle, dem einzigen flachen Plätzchen weit und breit. Sie laden mich sogar noch zum Kaffee ein, doch es ist schon spät und ich lehne dankend ab, aber während ich mein Zelt aufstelle und meine Nudeln koche, unterhalte ich mich mit dem freundlichen Besitzer, der mich neugierig nach meiner Route ausfragt. Ein weiterer Bonus: hier oben gibt es nur wenige Erst-August-Lärm zu hören, nur auf der Alp weiter unten lässt man ein paar Raketen steigen. 


Früh am nächsten Morgen breche ich auf zur Bochetta da Trescolmen, die ich bereits um neun Uhr erreiche. Es ist ein kalter, grauer, windiger Morgen, ich trage sogar Handschuhe. Etwas schade, dass die Via Alpina nicht über den Sentiero Alpino de Calanca geht - da hat man meiner Meinung nach einen tollen Höhenweg ausgelassen. 


Hätte ich keinen Zeitdruck, wäre ich dem Sentiero Alpino gefolgt und hätte das Calanca-Tal weiter unten überquert. Doch zum ersten Mal auf dieser Reise muss ich zu einem fixen Datum an einem bestimmten Termin sein, und ich habe fast ein bisschen Stress deswegen (man verlernt auf so einer Reise schnell, was im Alltag total normal ist: sich an Termine halten zu müssen). Am nächsten Sonntagabend treffe ich nämlich meine Freundin Chantal auf der Robiei, am Ende des Val Bavona. Sie wird mich dann eine Woche durchs Piemont begleiten, alle Hütten sind gebucht. Mir bleibt also genau eine Woche fürs Tessin. Eigentlich keine riesige Strecke, aber viele sehr steile Auf- und Abstiege, und das Wetter hat natürlich, wie sollte es anders sein in diesem Sommer, keine ehrenhaften Absichten. An mindestens zwei Tagen sind sintflutartige Regenfälle gemeldet, 50 mm und mehr. Ich plane daher auch ein, zwei Alternativen zur offiziellen Via Alpina, denn bei solchen Regenfällen sind nicht mehr alle Wege so spassig zu gehen. Der Abstieg ins Calancatal zieht sich hin, und vor allem muss ich mehrfach durch den Bach waten, der viel Wasser führt - ich werden bis zu den Knien nass. Obwohl es nicht regnet, und am Nachmittag sogar die Sonne rauskommt, werde ich erst warm, nachdem ich den dritten Kaffee gekocht habe (mein Geheimrezept für kalte oder nasse Tage: viiiiiel gesüsste Kondensmilch reintun). Auch stürze ich erneut, weil ich auf einem moosigen Felsen ausrutsche - ich glaube, es wird Zeit für ein neues paar Schuhe. Dafür sind endlich die Heidelbeeren reif, doch sie schmecken noch nicht - sie sind wässrig und sauer und brauchen dringendst ein paar Sonnenstunden. Natürlich stopfe ich sie trotzdem in mich rein, bis ich in Valbella ankomme.


Danach geht es gleich ännet am Berg wieder hoch. Ich wähle einen etwas tiefer liegenden Pass, als eigentlich vorgesehen, den Pass Giümela, um ins Tessin zu kommen. Das ermöglicht mir, heute noch den Pass zu erreichen, denn morgen soll es schon wieder regnen. Ausserdem ist der Abstieg nach Biasca dann nicht sooo brutal. Es geht auch so noch weit genug runter, denn Biasca liegt nur noch auf 300 m. Jetzt aber erst mal hoch. Der Nachmittag wird richtig sonnig, und der Weg führt sanft von Valbella bergauf, zunächst auf die Alp de Naucal, wo die Ziegen herrschen, und schliesslich auf den Pass Giümela. Am Ende wird es fast weglos, hier scheint kaum jemand vorbei zu kommen. 


Auf 2117 m verlasse ich Graubünden und betrete das Tessin, welches mich mit einer fantastischen Aussicht auf die Tessiner Gipfel, wunderschöner Abendstimmung über dem Val Pontirone und - der Knüller - gemähten Wegen begrüsst. Nach meinem Schreck mit der Kreuzotter kürzlich bin ich dafür besonders dankbar, denn auf den warmen Steinplatten-Wegen des Tessins sind mir in anderen Jahren schon ein paar Schlängelviecher begegnet, die meinen Adrenalinpegel ordentlich durcheinandergebracht haben. 


Eigentlich hatte ich vor, auf der Alpe Giümela oder etwas weiter unten zu zelten. Doch die Alp ist von Kühen und Ziegen belegt und zum Zelten nicht geeignet. Da sehe ich einen Wegweiser: "Rifugio Alpe Giümela 5 min." Auf meinen Online-Karten ist nichts dergleichen eingezeichnet, aber ich beschliesse, mir das mal anzusehen. Und tatsächlich, keine 5 Minuten weiter steht ein Traum von einem Refugio: ein altes Steinhaus, hoch über dem Tal auf einer riesigen Felsplatte gebaut (die Felsplatte bildet den Boden des Rifugio, ich stosse mir ein paarmal die Zehen daran in der Nacht). Ein Zaun hält die Ziegen und Kühe draussen, ein Tisch und Bank bietet beste Aussicht ins Tal, der Handy-Empfang ist top. Die Hütte ist unbewartet, aber zur Selbstversorgung bestens geeignet. Ein Gasherd, etwas Solarstrom (Licht!), ein Schrank voller Vorräte, sogar zwei Bier und eine volle Flasche Grappa stehen da. Keine Frage, hier bleibe ich, denn es hat schon wieder Regenwolken am Himmel. Der erste warme Regenguss fällt dann auch, als ich draussen ein Bier zische, und mit einer Freundin telefoniere. Da ich der einzige Gast bin an diesem Abend, koche ich mit Freude ein leckeres Menü aus meinen eigenen Vorräten, angereichert mit einer Büchse Erbsen aus dem Hüttenvorrat, sowie etwas Grappa zum Espresso (denn natürlich fehlt hier auch die Bialetti nicht). Abends breite ich meinen Schlafsack auf einem der Hüttenbetten aus und schlafe herrlich. Gut, ist dieses Rifugio unbekannt und keine offizielle SAC-Hütte, sonst wäre hier sicher mehr los. 



Einen Nachteil hat das ganze dann aber: da ich mir mittlerweile kaum mehr einen Wecker stellen muss, weil ich im Zelt von alleine früh erwache, verschlafe ich total in der dunklen Hütte und pfuuse bis halb zehn. Ich erwache erst, als ein Mann mit grauhaarigem Irokesenhaarschnitt tropfnass in der Hütte steht und sich suchend umschaut. Ich muss zweimal "Hallo" rufen, bevor er mich wahrnimmt (dabei wollte ich nur höflich sein und ihn nicht erschrecken). Er guckt mich erst an, als wäre ich von einem andern Planeten, dann fragt er radebrechend nach seinen Ziegen. Die sind zwar nicht hier in der Hütte, aber da ich sie am Abend vorbeispazieren sah, kann ich immerhin seine Frage beantworten. Erst später wird mir klar, dass er vielleicht einfach einen Grappa mit Kaffee wollte (oder umgekehrt). Bevor ich ihm eine halbe Bialetti anbieten kann, ist er schon wieder weg, auf der Suche nach den Ziegen. Draussen schüttet es, daher lasse ich mir Zeit mit dem Frühstück (heute morgen ohne Grappa), jetzt spielt es auch keine Rolle mehr, wenn ich erst um elf loslaufe. Im Regen verlasse ich das geliebte Rifugio Giümela, und treffe kurz danach den wortkargen Altpunker wieder, jetzt mit seinen Ziegen vereint. Weiter unten im Tal sehe ich dann auch seine Alphütte (das Anarchy-Zeichen an der Hauswand und die Hanfblättli mit Ziegen auf der Flagge verraten ihn). Der Abstieg durchs Val Pontirone führt durch nebligen Bergwald, in dem viele Pilze wachsen, das Moos von den Bäumen hängt, und alles ganz verwunschen wirkt. Das erste Mal finde ich reife Himbeeren am Wanderweg. 



Weiter unten komme ich auf die Fahrstrasse, der ich bis ins Bleniotal folge, was jedoch nicht weiter schlimm ist, denn es hat kaum Verkehr, und ich wandere durch ein paar hübsche, typische Tessiner Dörfer. Mit dem Regen habe ich Glück heute, immer wenn ich einen Unterstand für eine Pause finde, schüttet es so richtig, ansonsten reicht der Schirm meistens für das bisschen Regen. 




Endlich, am späten Nachmittag, erreiche ich den Talboden und wenig später Biasca. Doch ich will noch weiter heute, denn ich habe recherchiert, dass es auch im Val d'Ambra, dem nächsten Tal, so ein unbewartetes Rifugio gibt, das Tecc Stevan. Da will ich noch hin, denn dann kann ich einerseits trocken schlafen und ausserdem den langen Aufstieg über den nächsten Pass in zwei Etappen aufteilen. Die Leventina ist rasch durchquert, hier heisst es, Musik in die Ohren und marschieren, denn die Autobahn und Eisenbahn machen ordentlich viel Krach. Bald erreiche ich den Abzweiger zum Val d'Ambra und steige rasch auf. Gleich gegenüber verschwindet die Bahn im Berg, durch den neuen Gotthard-Basistunnel. 



Endlich hört es auf zu regnen, und nach einer Weile verliert sich der Verkehrslärm, es bleibt nur das Tropfen des Wassers, das Rauschen der Bäche über die steilen Felsen, der Wind in den Kastanienbäumen. Der Weg führt stetig und gleichmässig auf einem schönen Steinplattenweg zwischen den Felswänden durch den Kastanienwald, ein wunderschönes Tessiner Tal liegt vor mir.



Früher als gedacht erreiche ich das Rifugio, dennoch war es ein langer Tag, ich bin fix und fertig. Hier gibt es leider weder Strom noch Gasherd, und es dauert eine Weile, bis ich mich im düsteren Rifugio zurechtfinde. Auch hier bin ich der einzige Gast. Eine Kerze in einer alten Weinflasche spendet Licht, während ich meine Nudeln auf dem Gaskocher zubereite, zum Einfeuern bin ich zu müde und fühle mich überfordert mit dem alten Ofen. Zum Glück ist es nicht so kalt. Aber es hat Wasser, auch ein paar Vorräte (jedoch nicht so appetitliche wie am Tag zuvor, mal abgesehen von einem Rest Kaffee und einem grossen Schluck Campari). Hier scheint man seltener nachzukontrollieren, ob alles in Ordnung ist. Aber das System ist dasselbe: die Übernachtung kostet kaum etwas, man gibt nach Augenmass dazu, was man an Essen, Gas oder Holz verbraucht, oder füllt gleich selber die Vorräte wieder auf. Das Geld wirft man entweder bar in eine Kasse oder überweist per Einzahlungsschein. Das Vertrauensprinzip scheint recht ordentlich zu funktionieren, ist halt immer eine Überraschung, wie sich so eine Hütte präsentiert. Auch dieses Rifugio ist von einer Gemeinde betrieben und kaum bekannt. Ich kenne solche unbewarteten Rifugios eigentlich fast nur vom Tessin, aber ich liebe sie.



Diesmal stelle ich mir den Wecker, denn der Regen kommt ab elf Uhr vormittags, da will ich vorher so viel wie möglich laufen. Natürlich schaffe ich es nicht so weit, wie erhofft, der Regen kommt früher, der Weg zum Pass ist unendlich steil und langsam zu gehen. Ich bin erschöpft und völlig nass, als ich oben auf dem Passo di Gagnone ankomme, denn ein paarmal musste ich fast kopfvoran durch die Büsche, so überwuchert war der Weg.



Nun regnet es immer heftiger. Auf dem Pass geht ein eisiger Wind, also nichts wie runter. Ganz in der Nähe ist die Capanna d Efra, eigentlich wäre das ein idealer Ort, um sich etwas aufzuwärmen. Aber auf der Hütte scheinen irgendwelche Bauarbeiten im Gange zu sein, laute Musik dröhnt aus den Fenstern, überall stehen Bierdosen, Weinflaschen, Schaufeln und Hacken herum. Offenbar machen die Bauarbeiter auch gerne Party, daher lasse ich die Hütte links liegen. Heute abend bin ich im Hotel, je früher ich dort ankomme, je länger kann ich meine Sachen trocknen und ein warmes, trockenes Zimmer geniessen. 



Der Abstieg ist lang und steil, doch trotz Starkregen und Nebel sehe ich einen wunderschönen, türkisblauen Bergsee sowie zahlreiche, spektakuläre Wasserfälle und natürliche Swimming Pools. An einem heissen Sommertag muss diese Wanderung durchs Val d Efra der Hammer sein - so viele Abkühlungsmöglichkeiten! Heute jedoch muss ich konzentriert gehen, um nicht auszurutschen oder unfreiwillig geduscht zu werden, obwohl ich eigentlich nicht mehr nasser werden kann. Endlich erreiche ich den Talboden und kurz danach Sonogno im Verzascatal. Im Hotel Alpina ist man sich an den Anblick von tropfnassen Wanderern gewöhnt, die Besitzerin erzählt mir, sie hätten in diesem Sommer erst 5 wirklich schöne Sommertage gehabt. Wir jammern ein bisschen übers Wetter, eine Garantie für sofortige Verschwesterung und Verbrüderung unter dem Wander- und Gastgeber-Volk in diesem nassesten Sommer aller Zeiten. Danach geniesse ich die heisse Dusche und deftige Canneloni zum Abendessen. Ausserdem lerne ich endlich, wie man aus einem Bocchalino trinkt. 


Am nächsten Morgen strahlt die Sonne vom Himmel, und ich unterschätze ihre Kraft. Obwohl in den Kommentaren der Via-Alpina-Webseite mehrfach erwähnt wird, man solle früh aufbrechen, bin ich doch ein bisschen fitter geworden mittlerweile, Etappenlängen von acht Stunden und mehr schrecken mich nicht mehr ab, und schon gar nicht lasse ich mir davon ein gemütliches Frühstück versauen. Also schwitze ich mich danach den Berg hoch durchs Val Redorta, das seit früh um acht in der prallen Sonne liegt und bereits ordentlich aufgeheizt ist. Die Sonnencreme kommt zu einem ihrer seltenen Einsätze, und die Trinkflaschen werden beide mit Elektrolyten aufgefüllt. Trotzdem werde ich immer langsamer und schleiche den Berg hoch. Auf der Alpe della Redorta schauen die Ziegen hochnäsig auf mich runter von ihrem Felsen, und eine Seniorenwandertruppe informiert mich, hilfsbereit und liebevoll, dass es immer noch 400 sehr steile Höhenmeter seien, und ob ich denn noch möge. Ich verkneife mir eine allzu sarkastische Antwort und schleiche im Eiltempo und mit hochrotem Kopf an ihnen vorbei.




Endlich, nach Einsatz von Händen und Füssen auf den letzten, fast vertikalen Metern, erreiche ich den Passo della Redorta am späten Nachmittag. Der Abstieg wird nicht so steil, doch das Hüpfen von Steinblock zu Steinblock erfordert Konzentration. Eine Wandergruppe kommt von einem anderen Weg her auf meinen, und fragt verzweifelt, wie weit es noch bis zur Tomeo-Hütte sei. Sie sind vermutlich auf der Via Alta Vallemaggia unterwegs, und sehen ebenfalls völlig fertig aus. Da ich nicht zur Hütte gehe und ihnen keine Auskunft geben kann, stolpern sie weiter, lösen Steine aus beim Absteigen durch loses Geröll, und sprechen sich gegenseitig Mut zu, dass sie bestimmt bald da seien. Jetzt geht es mir gleich wieder etwas besser. Ausserdem bin ich soeben 1500 km gegangen und suche nach einer schönen Stelle am Weg, um dies gebührend zu zelebrieren. Bald finde ich eine glatte Steinplatte, über die ein Bächlein rauscht. Der perfekte Ort fürs Tessin mit seinen glattgeschliffenen Platten überall! Steine hat es auch genug, und wenn sie gross genug sind, bleiben sie auch im Wasser liegen, ohne weggespült zu werden, wie ich rasch lerne. So forme ich ein "1500 km" aus Steinen und posiere daneben für ein paar Fotos.



Danach läuft es sich leicht, obwohl der Weg durchs Val Partus und Val di Prato noch weit ist. Aber nach einigen steilen Passagen und dem Überqueren einiger rauschender Wildbäche zieht sich ein schöner, sanft abfallender Weg durch die beiden Täler, die sich in Schönheit und Einsamkeit übertrumpfen. Nur ein paar Esel und schottische Hochlandrinder begegnen mir, erst im Val di Prato durchquere ich ein Dörfchen und sehe wieder Menschen. 



Mittlerweile ist es schon ziemlich spät, und als ich endlich Prato im Val Lavizarra erreiche, ist die einzige Osteria geschlossen. Zelten wäre kein Problem, das Wetter ist traumhaft, aber ich hatte darauf gepokert, im Restaurant zu Abend zu essen, da ich kaum mehr zu Essen dabeihabe. Auf meine Notfallration Asia Noodles hab ich keine Lust nach dem anstrengenden Tag, und der Laden ist auch nicht mehr geöffnet um die Zeit. Einer spontanen Eingebung folgend, prüfe ich den Fahrplan und siehe da, in fünf Minuten fährt das letzte Postauto talwärts. Ich steige ein und fahre bis Gordevio, wo es einen Zeltplatz mit angegliederter Pizzeria gibt, beides hat bis spätabends geöffnet. Was ich dabei nicht bedacht habe: es ist der einzige(!) offizielle Campingplatz im ganzen, extrem beliebten Maggiatal, und es ist Hauptsaison. Man findet zwar einen Platz für mich, aber ich muss für einen "Vier-Personen-mit-Auto-und-Hauszelt"-Platz tief in die Tasche greifen. Hundert Franken für zwei Nächte auf einem Zeltplatz, der eher wie ein Festival aussieht, so dicht stehen die Zelte. Eins ist sicher, Ruhe werde ich hier nicht finden. Auch in der Pizzeria lacht man mich fast aus, als ich um halb neun nach einem Tisch frage, ohne reserviert zu haben, doch mit etwas Geduld kriege ich bald einen Platz. Mit genug Rotwein wird auch die Menschenmasse und der Lärm von tausend Familien, die das baldige Ferienende feiern, erträglich. Der Salat und das Cordonbleu schmecken jedenfalls vorzüglich, und das Kindergeschrei blende ich aus, in dem ich meine armseligen Asia Noodles visualisiere, die ich sonst an einem lauschigen, ruhigen Zeltplätzchen hätte essen müssen. Schwieriger wird es später, das Bluesfestival im Dorf zu ignorieren, welches bis morgens um halb zwei die Zeltstadt beschallt. Es hätte schlimmer sein können, etwa ein Schlager- oder Volksmusikfestival. 



Ich habe dafür den Vorteil, dass ich hier mein Zelt samt Schlafsack, etc. stehen lassen, und dadurch mit leichtem Gepäck die letzten beiden Tessiner Etappen in einem Tag durchmarschieren kann. Mein ehrgeiziges Ziel ist es, jeden Schritt meiner Via-Alpina-Wanderung zu Fuss zu gehen. Auch wenn ich nicht immer der offiziellen Route folge, so möchte ich doch am Ende in Monaco oder wo auch immer ans Meer treten mit dem Gefühl: "Ich bin jeden Schritt bis hierher gelaufen". Abkürzungen zu Fuss sind legitim, aber die Seilbahn oder den Bus nehme ich nur, wenn mich sonst Wetter oder körperliche Verfassung in Gefahr bringt - oder ich am nächsten Tag genau zum gleichen Ort zurückfahren und dort weiter wandern kann. Andererseits habe ich keine Probleme damit, gewisse Etappen in umgekehrter Reihenfolge zu laufen, was ich ja bereits mehrfach getan habe - sei es, um dem Schnee auszuweichen, oder in einer Hitzewelle (ja, gabs tatsächlich mal ein paar Tage im Juni) nicht bergauf gehen zu müssen. Da mit dem teuren Zeltplatz ein Ticino-Ticket inbegriffen ist, gönne ich mir also frühmorgens eine kostenlose Bus- und vergünstigte Seilbahnfahrt auf die Robiei und wandere talabwärts durchs magische Val Bavona. Spätnachmittags steige ich in Bignasco ins Postauto, fahre das Val Lavizarra hoch bis Prato und laufe erneut zurück nach Bignasco, wo ich mit dem Bus zurück zum Campingplatz fahre. Zugegeben, das tönt kompliziert, aber mit den tollen ÖV-Verbindungen im Maggiatal ist das schlussendlich eine lange, aber sehr angenehme Wanderung. Den kühlen Morgen verbringe ich in den Bergen auf dem Abstieg von Robiei nach San Carlo, die grösste Hitze des Tages spaziere ich durchs schattige Val Bavona unter gigantischen Felsblöcken oder entlang der Bavona talwärts, und abends mache ich dasselbe im Val Lavizarra. Beide Täler sind wunderschön, haben gemütliche Wanderwege und Badeplätze und sind entsprechend beliebt. Es war lustig zu sehen, wie sich die Wege und Badeplätze im Verlauf des Tages füllen und leeren. Wer denkt, das Maggiatal ist überfüllt, hat recht - zwischen 11 und 17 Uhr, insbesondere in der Nähe von Parkplätzen. Vorher und nachher ist man fast allein, und es spielt eigentlich keine Rolle wo man ist - es ist überall mega schön. 


Den Schock des Tages (wohl eher des Monats) erlebe ich kurz vor meinem Feierabend, als ich wegen der vorangehenden Unwetter vom gesperrten Wanderweg auf die Strasse ausweichen muss. Es herrscht recht Verkehr, glücklicherweise hauptsächlich talabwärts, die Urlauber fahren zurück nach Locarno oder wo auch immer sie übernachten. Ich höre laut Musik über Kopfhörer, um den Autolärm zu übertönen und mich zu motivieren - schliesslich ist bald Bier- und Pizza-Time. Als ich auf einer Brücke das Handy raushole, um einen anderen Song zu wählen, rutscht mir das Handy aus der Hand, prallt in Zeitlupe vom Brückengeländer ab und stürzt 20 Meter in die Tiefe. Schreckerstarrt beuge ich mich über das Brückengeländer und sehe es noch unter mir am Steilhang im Gebüsch verschwinden. NEIN!!! Mein Handy ist mein Ein und Alles alles: Kamera, Navigation, Unterhaltung, Bank, Tagebuch und Kommunikation.
Die Vorstellung, alle Bilder, Musik, Lesestoff, Bankzugriff, Offline-Karten, Covid-Zertifikat, etc. zu verlieren, ist ein wahrer Horrortrip. Ganz abgesehen davon, dass das Handy recht neu war und jetzt wahrscheinlich schrottreif ist. In der vagen Hoffnung, wenigstens noch die Daten retten zu können, suche ich einen Weg hinunter zu der Stelle, wo mein Handy verschwunden ist. Glücklicherweise habe ich eine knallrote Hülle, aber es ist gar nicht so einfach, unterhalb der Brücke die Stelle wiederzufinden, die ich mir von oben gemerkt habe. Ich suche eine gefühlte Ewigkeit, fast schon unter Tränen, in den insektenverseuchten Lianen und Brennesseln, und endlich, endlich blitzt etwas Rotes auf. Zitternd greife ich danach, wische den Staub ab und schluchze erleichtert auf - es ist noch praktisch heil! Nur ein winzig kleiner Sprung im Display und ein total zerstörter Kopfhörer-Adapter zeugen von meinem kolossalen Missgeschick (a.k.a. die Beinahe-Katastrophe für euch fleissigen Blogleser und Bilder-Enthusiasten). Als dann auch der Lademechanismus und die Kamera noch einwandfrei funktionieren, mache ich einen kleinen Freudentanz (nicht ohne das Handy vorher sorgfältig wegzupacken, damit das nicht nochmal passiert). Hier ein Gratis-Tipp an alle Weitwanderer: macht eine ordentliche Schutzhülle und eine gute Bildschirmschutzfolie an euer Handy, scheiss drauf, wie doof das aussieht, und dass es euer Handy ein paar Gramm schwerer macht. Ich bin zwar notorisch ungeschickt, aber das kann jedem passieren. Ich habe einen Wanderer getroffen, der hat sein Handy sogar an einer dünnen Reepschnur an seiner Hose angebunden. Sieht mega doof aus, aber ich habe mittlerweile vollstes Verständnis dafür. 
Nach dem Schreck muss ich gleich in Bignasca noch in eine Bar stürzen und ein Bier bestellen, bevor ich mit dem Bus zurück in meine Zeltstadt in Gordevio fahre. Diese Nacht gibt's kein Blueskonzert und ich schlafe besser.
Dank ein paar langen Wandertagen und guter Planung bin ich sogar ganze 48 Stunden zu früh, um Chantal zu treffen. Und weil schon wieder eine heftige Regenfront angesagt ist, breche ich am nächsten Morgen früh auf zu einer weiteren Heimreise. Leider nicht früh genug, um dem ersten Regenguss zu entkommen auf dem Weg zur Haltestelle, doch irgendwo unter dem Berg im 57 km langen Gotthard-Basistunnel trockne ich wieder, bei WLAN und 230 km/h. Auf dem Heimweg schaue ich beim Bächli Bergsport rein und hole mir das dritte  Paar Schuhe und Socken dieser Tour - diesmal eine Nummer grösser, meine Füsse sind gewachsen (oder wohl eher platter geworden). Leider gibt es meinen Schuh nur noch im grellen Safrangelb, aber immerhin passt das zu meinem bunten Look. 



Daheim herrscht grosse Wiedersehensfreude, denn Sven ist auch wieder von seiner Deutschland-Fahrradrunde zurück, und gemeinsam pilgern wir in unsere Lieblingspizzeria Alter Zoll und verbringen einen wunderschönen Abend zusammen. Am Sonntag kann ich sogar ausschlafen, bevor ich zusammen mit Chantal zurück ins Tessin fahre. Aber von unserer Mädels-Woche erzähle ich euch das nächste Mal. 




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