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Bündner Spezialitäten




Wanderlust 2021, Woche 29-30: 
Endlich schönes Wetter! Bereits in der Nacht kann ich auf der Tübinger Hütte einen herrlichen Sternenhimmel bewundern (Fotos, siehe letzter Blog). Am Morgen strahlt die Sonne vom Himmel, als ich aufbreche. Nach dem vielen Nebel und Regen geniesse ich die herrliche Aussicht vom Höhenweg Richtung Hochmadererjoch umso mehr. 



Plötzlich nähert sich ein Trailrunner im Laufschritt von hinten. Ich erkenne ihn von Instagram, es ist Karel Sabbe, ein belgischer Ultrarunner, der gerade einen FKT (Fastest known time) Rekord auf der Via Alpina läuft. Er will die 2650 km in unter einem Monat laufen, das bedeutet, er rennt täglich etwa 90 km und 5000 Höhenmeter. Verrückt! Er hat natürlich ein Support Team und trägt nur ein winziges Rucksäckli, dennoch sehe ich daran noch Spikes baumeln. Auch Karel scheint etwas Respekt vor der Getschnerscharte zu haben, dem nächsten Pass. Ich schaffe es knapp, ihm viel Glück zu wünschen, da ist er schon um die Ecke gejoggt. Allerdings sehe ich ihn später nochmals aus der Ferne, wie er - jetzt mit ausgefahrenen Wanderstöcken - fast gemütlich (also nur im Laufschritt) aufs Joch steigt. Ich nehme es noch etwas gemütlicher. Vielleicht sollte ich einen SKT (Slowest known time) Rekord versuchen? Immerhin habe ich für die Distanz, die der Mann in zwölf Tagen rennt, fast drei Monate gebraucht. Später treffe ich noch einen anderen Via-Alpina-Wanderer, Martin, der "nur" einen Monat jedes Jahr auf der Via Alpina geht. Da er in Hütten übernachtet, ist sein Rucksack schön leicht, und er hat auch noch die Energie, hie und da einen Gipfel mitzunehmen (ich treffe ihn, als er gerade vom Hochmaderer hinunterklettert). Zwei herzige, freche Jung-Murmeltiere versüssen uns den steilen Abstieg. 





Am frühen Nachmittag erreiche ich den Silvretta-Stausee und gönne mir ein Glace am Kiosk.


In der Nachmittagssonne steige ich auf zur Getschnerscharte. Die Landschaft wird richtig hochalpin, bald bewege ich mich nur noch in kargem Schotter zwischen riesigen Schneefeldern, die auf meiner Karte noch als "Ferner", also Gletscher, eingezeichnet sind. Mittlerweile sind es nur noch ewige Schneefelder. 





Der Weg wird immer steiler und der lose, weiche Schotter macht den Aufstieg abenteuerlicher als mir lieb ist. Der ganze Berg scheint aufzutauen und wirkt extrem instabil. Zwischendurch bin ich fast froh, als ich endlich das steile Schneefeld unter dem Pass erreiche, der Schnee ist stabiler als der Fels. Doch mittlerweile ist der Schnee so stark aufgetaut, dass ich oft bis zur Hüfte einbreche. Vor mir sehe ich Fußstapfen mit dem typischen Profil der "on" Schuhe. Ich vermute, sie sind von Karel Sabbe, der von "on" gesponsert ist. Ich folgende ihnen eine Weile, bis zum Rand des Schneefelds. Zwischen dem Schneefeld und dem Fels ist ein Spalt geschmolzen, über ein Meter breit. Die Spuren hören am Spalt auf, ich vermute, ein Ultrarunner hüpft hier einfach drüber. Doch meine Weitsprungfähigkeiten waren schon zu Schulzeiten jämmerlich, ausserdem trage ich einen schweren Rucksack und bin kaputt. Ich wage es nicht und klettere vorsichtig in den Spalt. Natürlich gibt der Schnee nach und bricht wieder ein. Sorry für alle, die nach mir kommen, der Spalt ist nun noch breiter. Ich stapfe ein paar Meter den Spalt entlang in der vagen Hoffnung, dass ich irgendwie wieder rausklettern kann. Mit einer Brecheisen-Aktion, die weder elegant noch nachahmenswert ist, aber funktioniert (man kann Trekkingstöcke auch als Kletterhilfe verwenden, gewusst?), stehe ich bald danach erschöpft aber erleichtert auf dem Pass. 




Die Getschnerscharte ist mit 2839 Metern mein bisheriger höchster Punkt auf dieser Tour. Doch die Via Alpina ist noch nicht fertig mit mir heute. Der Abstieg vom Pass ist zwar schneefrei, aber eine einzige Rutschpartie im losen Schotter. Endlich, nach einer Stunde mehr oder weniger kontrolliertem Abrutschen, erreiche ich wieder Wiesen und finde kurz danach einen wunderschönen Biwakplatz. Gerade als ich den Rucksack auspacke (das Zelt und diverse Packsäcke liegen bereits draussen), überrumpelt mich ein völlig unerwarteter Wolkenbruch und nässt alles so richtig schön ein. Ich spanne den Schirm über meinen halb ausgepackten Rucksack und versuche, das Zelt aufzustellen, bevor es auf der Wiese ertrinkt. Das gelingt mir zwar, dafür kippt der Rucksack um, zerbricht eine Strebe meines schönen, pinken Schirms, und ergiesst seinen Inhalt in den strömenden Regen. Was soll ich sagen? Die Murmeltiere oberhalb der Jamtalhütte kennen jetzt viele neue Fluchwörter. Ich verbringe den verregneten Abend im Zelt und stelle fest, dass ich einen Sonnenbrand habe. Nach so vielen Regentagen habe ich wohl verlernt, wie man Sonnencreme richtig aufträgt.




Am nächsten Morgen nach zwei Tassen Kaffee und den ersten Sonnenstrahlen sieht die Welt viel besser aus. Heute ist mein letzter Wandertag in Österreich. Der Aufstieg zum Futschölpass ist leicht und wunderschön, es flutscht so richtig.




Unterwegs treffe ich einen Weitwanderer, einen älteren Herrn, der Stück für Stück die grossen Alpen-Weitwanderwege Österreichs läuft, aktuell wandert er auf dem Zentralalpenweg. Leider vergesse ich seinen Namen, aber es ist ein sehr angenehmes Gespräch. Ich hoffe, dass ich in seinem Alter auch noch so weite Wege gehen kann! Auf dem Futschölpass verabschiede ich mich das letzte Mal von Österreich, Land Nr 4 von 8 auf der Via Alpina. Über dem Pass hängt ein kleiner aber eindrücklicher Gletscher, der aussieht, als hätte jemand weissgraue Pancakes gestapelt. Es ist der Vadret Futschöl. Ich betrete wieder Schweizer Boden und den rätoromanischen Sprachraum.




Auf die nächsten Etappen freue ich mich riesig, denn ich liebe das Bündnerland und insbesondere das Engadin. Der Abstieg durchs Val d'Urschai und Val Tasna bietet auch alles, was das Wandern so toll macht: Murmeltiere, Wildblumen, fantastische Aussicht auf die nächsten, zu überquerenden Gebirge, ein wilder Bergbach, schöne Alpweiden. Ich hüpfe fast den Berg hinunter, nehme mir aber auch Zeit, einfach mal die Füsse ins Wasser zu strecken. Auf einem Schotterweg geht es schliesslich talabwärts, Richtung Unterengadin.





Die Via Alpina führt eigentlich durch Scuol, danach durchs Val S-charl und auf das Stilfser Joch. Sicher eine schöne Route, doch im Val S-charl war ich bereits mehrmals, sowohl im Winter zum Schneeschuhwandern, als auch im Sommer zu Fuss und mit dem Bike. Auch auf dem Stilfser Joch war ich erst vor 2 Jahren auf dem Heimweg von unseren Südtirol-Veloferien, und den Rummel dort oben muss ich nicht nochmals sehen. Ausserdem führt die Via Alpina nicht durch den Schweizer Nationalpark, nur am Rande entlang, ein Frevel, finde ich. Darum plane ich kurzerhand um, laufe bis Ardez und will von dort aus auf einem anderen, selbst konzipierten Weg, in Richtung Poschiavo weitergehen. Aber heute fahre ich nachhause, da unser Kater daheim momentan ganz alleine ist, abgesehen vom "Petmate", einem Katzenfutterautomat. Er mag den "Mate" nicht wirklich, obwohl der zuverlässiger als ich seine Friskies ausspuckt. Offenbar spielt es auch für abgebrühte Katzen eine Rolle, ob das Futter von einem Roboter oder von liebevoller Hand gestreut wird. Daher renne ich fast die letzten Kilometer nach Ardez, um den Zug zu erwischen und zu halbwegs vernünftiger Zeit daheim zu sein, bevor die Katze auf ihre nächtliche Jagdrunde aufbricht. Die Schnurrfreude ist dann auch gross. 



Am nächsten Tag nehme ich es gemütlich, schlafe aus, erledige die Wäsche und flicke zum hundertsten Mal meinen Regenrock. Gegen Abend fahre ich zurück und checke für zwei Nächte auf dem Campingplatz in Zernez ein. Dank super ÖV-Verbindungen kann ich so die nächste Etappe mit leichtem Gepäck laufen. 



Frühmorgens bringt mich die rhätische Bahn im Nu nach Ardez, von wo aus ich leichtfüssig (welch ein Genuss, ohne die schwere Kraxe am Rücken!) zunächst absteige zum Inn, den ich auf einer wackeligen Hängebrücke überquere, bevor ein langer Aufstieg mich ins Val Plavna führt. 


Der Weg steigt sanft auf, was natürlich die E-Biker auf den Plan bringt, und auf der ersten Hälfte des Tages brausen sie mir alle paar Minuten um die Ohren. Doch das tut der Schönheit des Tals keinen Abbruch, zeitweise wähnt man sich auf einem anderen Kontinent, so wild und weit ist das Tal. Da der wilde Bach zwischendurch irgendwo versickert, und hier keine Kuhglocken bimmeln, ist es gespenstisch still - so richtig Wildnis halt. 




Am Nachmittag erreiche ich eine Alp, Endstation für die Biker. Nun geht es fast weglos weiter, erst über Kuhweiden, dann ins Geröll auf die Fuorcla Val dal Botsch. Trotz leichtem Rucksack zieht sich der Anstieg im Schotter in die Länge. Ein paar Mohnblumen bilden bunte Punkte im kargen Fels - wie überleben die hier? Und weiter oben erblicke ich bei einer Verschnaufpause einen riesigen Raubvogel, der über dem Pass kreist. Leider kann ich nicht erkennen, ob es ein Adler oder ein Bartgeier ist, seine Schwingen sind jedoch gigantisch. Endlich, am späten Nachmittag, erreiche ich den Pass und betrete den Nationalpark. 




Zum ersten Mal auf dieser Tour erblicke ich einen Viertausender - in der Ferne erhebt sich das Berninamassiv. Schon in wenigen Tagen werde ich dort sein! Aber die kurze Schönwetterphase bringt natürlich auch Quellwolken und abendliche Gewitter mit sich. Im Abstieg fallen bereits die ersten Tropfen, und der Himmel grollt. Doch dann kommt tapfer nochmals die Sonne raus und ich erblicke in der Ferne Rotwild und direkt am Wegrand ein Edelweiss. Wow! Mir schiessen glatt die Tränen in die Augen vor Freude. Ich habe noch nicht oft in freier Natur ein Edelweiss gesehen, und noch gar keines auf dieser Tour. Fasziniert starre ich auf diese weisse, pelzige Blume. Was für ein Glückstag! Ich bestaune, fotografiere und filme die seltene Alpenblume von allen Seiten, bevor mich das Gewitter daran erinnert, dass ich absteigen sollte. Doch nur ein paar Schritte weiter finde ich noch mehr Edelweiss und knie schon wieder im Gras, Kamera vor der Nase. Der Donner grollt, ich verabschiede mich schweren Herzens von Edelweiss und Nationalpark. Natürlich muss ich am Schluss noch rennen, um das Posti zu erwischen, aber ich schaffe es, und der Himmel ist gnädig heute - er leert seine Kübel erst, als ich im Postauto sitze, und hört bereits wieder, bevor ich in Zernez ankomme. 




Am nächsten Tag breche ich meine Zelte in Zernez ab, das Postauto fährt mich zurück nach Stabelchod, wo ich gestern eingestiegen bin. Von hier wandere ich über die Alp Buffalora ins Val Mora. Auch hier zischen die Biker in Kolonnen an mir vorbei, doch keiner erblickt die ganze Wiese voll von Edelweiss auf der schönen, wilden Hochebene Jufplaun. Unglaublich, hier wachsen die Edelweiss wie Unkraut auf der Kuhwiese! Meine Handykamera klickt sich fast in Ekstase. Irgendwann reisse ich mich los und wandere über einen sanft ansteigenden Pass ins Val Mora. 



Auf dem steilen Abstieg kann ich ein paar spektakuläre Stürze von übermütigen Altherrenbikern und testosterongeladenen Jungspunden beobachten (ausser ihrem Stolz bleiben sie zum Glück unverletzt). Nach einem kühlenden Fussbad in der Mora wandere ich weiter. Hier zieht sich ein wunderbarer, flowiger Singletrail dem Talrand entlang über die Grenze zu Italien ins Val di Fraele. Es ist natürlich erstklassiges Bike-Territorium, das muss ich mir eingestehen - das habe ich bei meiner Routenwahl nicht bedacht, und auf dem schmalen Weg muss ich öfters ausweichen. Dennoch ist es eine wunderschöne Wanderung, die Landschaft ist fantastisch und das Wetter so richtig sommerlich, fast schon heiss. Ein warmer Föhnwind bläst den ganzen Tag, kündigt schlechtes Wetter an und trocknet mich ordentlich aus.



An diesem Tag verschätze ich mich erstmals mit dem Wasser, denn alle Bäche auf der Karte sind trocken (ausser der nun weit unter mir schäumenden Mora, an die ich nicht mehr rankomme). Erst am Stausee San Giacomo hat es verdankenswerterweise einen Brunnen, vor dem schon Dutzende Wanderer und Biker Schlange stehen, um ihre Trinkflaschen zu füllen. Scheinbar bin ich nicht die Einzige, die hier ihren Durst unterschätzt hat. Am Abend wandere ich noch dem Stausee entlang und ins Valle Pettini hoch. Ich will über die Bochetta di Trela, um am nächsten Tag wieder auf die Via Alpina zu stossen. Es wird einsam, der Weg fast unscheinbar. Hier herrschen wieder die Murmeltiere statt die Zweiräder. 




Auf dem Pass stelle ich mein Zelt auf, direkt neben ein paar Edelweiss, und geniesse die pfeifenden Murmeltiere und einen spektakulären Sonnenuntergang. Als es dunkel wird, lege ich mich in den Schlafsack und bin schon fast eingedöst, als plötzlich eine extrem helle Lampe am Himmel angeht: über dem Pass geht der Vollmond auf und blendet mich. Ich muss mir den Schlafsack über den Kopf ziehen, um einzuschlafen. Wie ihr seht, kämpfe ich hier draussen mit real world problems... 😁




Am Morgen herrscht dichter Nebel, als ich auf der anderen Seite der Bochetta di Trela ins Val Viola absteige. Alles ist nass vom Morgentau und Nieselwolken, aber die Wildblumen auf den Alpen sind spektakulär schön. Ich erreiche einen Höhenweg, oder eher eine Höhenstrasse, der ich bis am Abend folgen werde. Nicht sehr spannend zu wandern, aber hie und da lichten sich die Wolken und geben den Blick frei auf Bormio weit unter mir und die Dreitausender rund ums Stilfser Joch. Der Ortler bleibt leider unsichtbar. Auch ein paar Erdbeeren am Wegrand versüssen den langen Marsch durch das endlose Tal. 



Es ist Wochenende, und viele italienische Grossfamilien suchen mit dem Auto nach einem schönen Fleck für ein Picknick und vielleicht einen kurzen Spaziergang, leider auch auf der schmalen Strasse, auf der ich wandere. Ab Mittag beginnt es dann noch ernsthaft zu regnen, und den restlichen Tag verbringe ich hauptsächlich damit, meine Regensachen ein halbes Dutzend mal an- und wieder auszuziehen. Auch die vielen Ausflügler sind alle pflotschnass, die Launen der Kinder und Eltern am Boden, ich sehe viele Tränen und nur wenige, die noch über das triefende Elend lachen können. Auch ich finde es mittlerweile nicht mehr so lustig, denn die Prognosen sind dramatisch: für den Abend und die Nacht sind heftige Gewitterstürme mit Hagel und Rekordniederschlag angesagt. Ich erreiche endlich, bei bereits sturmhaften Böen, den Pass da Val Viola und die Schweizer Grenze, und hoffe, in der nächsten Hütte, dem Rifugio Saoseo, ein Plätzchen zu finden, statt bei den schönen Seen zu biwakieren. Doch natürlich ist die Hütte proppenvoll, und ob dem Geschrei der vielen Kinder bin ich fast dankbar, dass es keinen Platz mehr für mich hat. Dafür kriege ich ein Bier gesponsert, weil man ein Herz für obdachlose Via-Alpina-Wanderer hat (und ein bisschen Mitleid, vermute ich). Auch die nächste Alp hat keine Betten mehr frei, und man empfiehlt mir, noch bis Sfazu an der Bernina-Passstrasse zu laufen, dort gäbe es eine einfache Pension. Eine Stunde später, nachdem ich im Laufschritt die Alpstrasse hinuntermarschiert bin, erreiche ich die Pension. Meine späte Ankunft und ein Wunsch nach Bett und warmem Essen löst erst mal keine Begeisterungsstürme aus, das bedeutet ja Arbeit. Doch nach ein paar beharrlichen Minuten des Lächelns und Armselig Dreinschauens findet sich doch noch ein freies Zimmer und man tischt mir sogar noch sehr leckere Pizzocheri auf. Ich zeige mich dann auch äusserst dankbar, und schlussendlich lächelt die grantige Besitzerin sogar zurück. Der Witz an der Sache ist dann, dass es in Sfazu weder regnet noch hagelt oder gewittert. 




Der Hagel fällt dafür an anderen Orten der Schweiz reichlich, und am nächsten Tag holt mich auch der Regen und die Gewitter ein. Ich schaffe es noch trocken auf den Berninapass, doch der Abstieg nach Pontresina wird ein Trauerspiel im strömenden Regen, bei grollendem Donner und eiskaltem Wind. Der Peakfinder erzählt mir zuverlässig, welche tollen Aussichten ich verpasse. 







Erst kurz vor Morteratsch drückt nochmals die Sonne durch, und ich werde doch noch belohnt für meine Mühen: ich erhasche einen kurzen Blick auf Piz Bernina und Piz Morteratsch und ihre spektakulären Gletscher, geniesse den Wasserfall-Trail zusammen mit vielen anderen pitschnassen Wanderern, und kurz vor Pontresina zeigt sich auch noch der Piz Palü. 












Eigentlich führt die Via Alpina auf der italienischen Seite des Berninamassivs durch, doch das Wetter für die nächsten paar Tage ist so traurig, dass ich nochmals für einen Tag heimfahre (ganz gediegen im Bernina-Express), und am übernächsten Tag einen kurzen, flachen Marsch durchs Oberengadin nach Plaun da Lej mache (ebenfalls im eisigen, strömenden Regen). Wenigstens bin ich nicht die Einzige, viele Touristen wandern ebenso verdrossen und begossen wie ich den schönen Seen entlang, während der Regen auf Schirme und Pelerinen hämmert.


Abends komme ich in Plaun da Lej in einem Hotelzimmer ganz aus Holz unter, die Dusche ist zwar auf dem Gang, aber trotzdem versprüht das alte Engadiner Haus viel Charme. 
Am nächsten Morgen herrscht eine neblige, mystische Stimmung über dem Silsersee, die eher an November als an Juli erinnert. Immerhin kann ich die erste Stunde trocken aufsteigen bis zum Engadiner Höhenweg. Bei einem winzigen Dörfchen beginnt es dann wieder zu regnen, ich eile unter die Dächer, um mich unterzustellen und meine Regenmontur anzuziehen. Gegenüber stehen ein paar andere Wanderer und machen dasselbe. Erst als sie sich umdrehen und weiterwandern wollen, erkenne ich sie - es sind gute Freunde, Antonia und Martin, die gerade losgewandert sind für eine neuntägige Wandertour durchs Engadin. Was für ein Zufall! Ich wusste zwar, dass sie diese Tour im Juli geplant hatten, aber hätte nicht damit gerechnet, dass wir uns noch über den Weg laufen. Wir plaudern ein paar Minuten angeregt, dann steige ich weiter auf in Richtung Lunghin Pass. 




Der Regen und Wind wird immer heftiger. Auf der Karte ist beim Lunghinsee kurz vor dem Pass ein Unterstand oder Schutzhütte eingezeichnet, in dem ich meine Mittagspause und ein paar regenfreie Minuten geniessen will, doch der Unterstand existiert nicht. Ich irre ziemlich lange umher auf der Suche danach, bevor ich hässig aufgebe. Mittlerweile bin ich seichnass und durchgefroren, es sträzt immer noch, und obwohl ich den ersten Pass fast erreicht habe, ist meine heutige Etappe noch weit. Eine andere Wandergruppe verwickelt mich in ein Gespräch und verkürzt die Zeit bis zum Septimerpass. Es sind Amerikaner, ebenfalls auf ihrem ersten Wandertag, und noch ganz gut gelaunt, obwohl auch sie völlig durchnässt sind. Von ihnen erfahre ich auch, dass das schöne grüne Gestein Serpentit heisst. Ausserdem überschreite ich eine "Triple divide", von hier strömt das Wasser in drei Weltmeere - ein seltenes Phänomen und angeblich die einzige solche Wasserscheide in Europa. Hinter dem Septimerpass steigt der Weg gleich wieder an zur Forcellina, dem dritten und letzten Pass für heute. Ganz kurz hört der Regen auf, und ich nutze die Zeit, um meine Sachen etwas zu trocknen und rasch einen Riegel zu essen, da beginnt es bereits wieder zu tropfen und gewittern. Mit hängendem Kopf stiefle ich über die Forcellina ins Avers. Der Abstieg im Regen zieht sich endlos hin, der Wanderweg ist total überflutet. Erst als ich Juppa erreiche, hört es endlich auf zu regnen.


Im Prinzip wollte ich biwakieren, aber ich bin so durchnässt und durchgefroren, dass ich beschliesse, mit dem letzten Postauto nach Andeer zu fahren. Dort gibt es einen Campingplatz mit heissen Duschen und einem Bauwagen für Wanderer und Radfahrer, in dem ich kochen und meine Sachen trocknen kann. Auf der Fahrt ins Tal sehe ich mit Schrecken, wie viel Hochwasser die Bäche führen und hoffe, mein Weg wird nicht weggespült. 


Am nächsten Morgen bringt mich das erste Postauto zurück nach Juppa, endlich scheint die Sonne wieder. Zunächst geht es einfach das Tal runter bis nach Interferrara. Ich gehe meist der Strasse entlang, weil die Wanderwege vielerorts überflutet sind. Auf der alten Averser Strasse läuft es sich auch ganz schön. Unterwegs treffe ich mehrere Fernwanderer, doch nur Eleonore hält an, um sich mit mir zu unterhalten, während ich Kaffee koche und mein Zelt trockne. Sie ist die erste Wandererin, die ich kreuze, welche in Monaco gestartet ist. Da ich nun ungefähr die Hälfte des Weges hinter mir habe, beruhigt mich dies sehr. Wenn Eleonore es in derselben Zeit wie ich bis hierhin geschafft hat, kann ich den Rest vielleicht auch noch schaffen.


Am Nachmittag steige ich ins ruhige und einsame Val Niemet auf und erreiche gegen Abend den Passo da Niemet. Was für ein schöner Pass! Er ist mit grossen, glatt geschliffenen Felsen bedeckt, dazwischen viele winzige Seen, als hätten sich hier Zwerge eine Norwegen-Landschaft nachgebaut. Zwischen zwei Seen stelle ich mein Zelt auf und geniesse den Sonnenuntergang auf einem warmen Felsen, direkt an der Grenze zu Italien. Nachts leuchtet der Mond hell auf die magische Felsenwelt. 




Am Morgen strahlt die Sonne immer noch vom Himmel, doch leider kommt heute bereits wieder der Regen, daher versuche ich, möglichst weit zu kommen, bevor es zuzieht. Der Abstieg zur Splügenpass-Strasse und dem Lago di Montespluga ist bald geschafft. Nun gilt es, eine Entscheidung zu treffen. Die Via Alpina folgt der Via Spluga bis nach Isola hinunter, und steigt dann wieder auf. Dabei würde ich viele unnötige Höhenmeter verlieren, denn ich muss nicht zwingend nach Isola. Es gibt auch direkt ab der Staumauer einen Höhenweg, doch der ist eigentlich gesperrt wegen Hangrutsch und es ist unklar, ob ich durchkomme. Gerade als ich an der Abzweigung überlege, kommt ein Einheimischer vom Höhenweg und sagt, der Hangrutsch sei kein Problem. Also wandere ich auf dem Höhenweg, und der ist spektakulär schön. Der Hangrutsch entpuppt sich als kleines Geröllfeld, und der Weg wird definitiv sehr selten begangen. Ich sehe so viele Murmeltiere wie noch nie, allerdings auch eine riesige Kreuzotter, die mir einen Riesenschreck einjagt, da sie gut getarnt einen halben Meter vor mir auf dem überwucherten Weg sonnt. Erst beim Aufstieg zum Pass wird es dann abenteuerlich, denn der Weg existiert hier seit Jahren nicht mehr, es gibt auch keine Markierungen, und es herrscht dichter Nebel. Ich bin froh über mein Handy, das mich sicher auf den Passo di Balniscio bringt.



Auf einer Hochebene kurz vor der Grenze zur Schweiz beginnt es zu regnen. Nach dem Grenzpfosten am Passo da Serraglia finde ich zum Glück rasch einen Biwakplatz, denn nun geht ein Gewitter über mir nieder, wie ich es noch nicht erlebt habe auf dieser Tour. Der Blitz und Donner kracht direkt über mir, mein Zelt steht zum Glück gut geschützt zwischen den Felsen, sonst wäre es zum Fürchten (OK, ich fürchte mich auch so ein bisschen). Erst kurz vor dem Eindunkeln beruhigt sich das Wetter. 



Am nächsten Morgen weckt mich ein Mungg in aller Herrgottsfrühe, weil ich auf seiner Wiese stehe. Nur wenige Meter neben mir pfeift er sich die Seele aus dem Leib, dass es zwischen den Felsen hallt. Heute scheint wieder die Sonne, als ob nichts gewesen wäre. Ich steige entlang des wilden Bergbach und über einsame, verlassene Alpen ab. Mittendrin steht ein typisches Thruhiker-Tarp, direkt am Wanderweg. Da wurde wohl noch jemand vom Gewitter überrascht. Obwohl es bereits nach acht Uhr ist, regt sich drin noch niemand, so erfahre ich nicht, ob dies auch ein*e Via Alpina Wanderer*in ist. 


Der Abstieg wird nun sehr steil und verlangt volle Konzentration. Dreimal knalle ich der Länge nach hin, weil ich auf dem nassen Gras, den glitschigen Felsen und Tannenzapfen ausrutsche. Endlich, mit wackeligen Knien, erreiche ich Pian San Giacomo und lasse mich erleichtert vor einem Food Truck nieder. Ein leckerer Capucchino beruhigt die Nerven. Weil schon wieder unglaubliche Regenmengen angesagt sind für die Nacht, fahre ich nochmals nachhause. Die Katze ist fast schon genervt ob so viel Besuch, schnurrt dann aber doch zufrieden auf meinem Schoss am Abend, da ich die richtigen Leckerlis mitgebracht habe, während draussen der Regen an die Fenster prasselt. Nächste Woche geht es ins Tessin!


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