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Wetterkapriolen auf dem Weg vom Tirol ins Südtirol



Wanderlust 2021, Woche 26-27: 

Als ich am frühen Morgen aus dem Fenster der Meilerhütte schaue, sehe ich - nichts. Ausser weiss. Nach einer kurzen Schönwetterperiode hat mich das schlechte Wetter eingeholt und die Hütte total eingenebelt, es nieselt. Auch meine beiden Hüttengenossen, zwei lustige schwäbische Rentner, steigen mit mir ab. Sie laufen ein paar hundert Meter vor mir, ich kann sie kaum sehen, aber höre von weitem ihre Kabbeleien und Gekicher, sie haben es trotz Sauwetter lustig. Schon nach kurzer Zeit verzieht sich der Nebel, die Sonne kommt raus. Ich freue mich über die schöne Aussicht in Richtung Karwendel und steige die steilen 1500 Höhenmeter ins Leutaschtal ab. Unten schmerzen meine Knie, und es ist sehr heiss im Tal. Für ein erfrischendes Bad ist die Leutasch zu wenig tief, aber zum Füsse kühlen reicht es auf jeden Fall, bevor es über den nächsten Berg nach Scharnitz geht. Der Hohe Sattel ist glücklicherweise alles andere als hoch, und so erreiche ich Scharnitz bereits am Nachmittag. 













Schwarze Wolken brauen sich schon seit Stunden zusammen, ich höre das Donnern bereits am Mittag. Dennoch schaffe ich es, vor dem Gewitter meine Einkäufe zu erledigen, auf dem Campingplatz mein Zelt aufzustellen und gemütlich ein kühles Dosenbier zu geniessen, während meine Zeltnachbarin verzweifelt mit ihrem Hauszelt kämpft. Der Wind bläst schon ordentlich, und sie hat offensichtlich keinen Plan, wie man das aufblasbare Monsterzelt effizient aufstellt. Da sie jegliche Hilfe ablehnt (und ich ehrlich gesagt auch keine Ahnung habe, wie man ein Zelt aufbläst), geniesse ich das Spektakel vor meiner Ultraleicht-Hundehütte und unterhalte mich mit Eike, einem anderen Weitwanderer, der auf dem Adlerweg unterwegs ist. Wir unterhalten uns eine Weile prima, bis der Regen kommt, dann verziehe ich mich in die hochmodernen Duschräume und beende einen Blogbeitrag. Draussen leert es so richtig runter, das Zelt meiner Nachbarin steht jetzt in einer riesigen Pfütze, und so reisst sie alles nochmals ab und baut es ein paar Meter weiter neu auf. Ich habe mehr Glück mit meinem Zeltplatz und koche einigermassen trocken meine Pasta im Vorzelt, während es sich so richtig einregnet. 


 

Die nächsten paar Tage ist leider schlechtes Wetter angesagt, daher buche ich für die folgenden zwei Nächte ein Bett in einer Hütte. Daher steht mir am Mittwoch eine kurze Etappe bevor, "nur" 20 km bis zum Karwendelhaus. Ich trödle daher gemütlich rum am Morgen und breche erst gegen halb elf auf. Es ist bedeckt, und nach einer Stunde beginnt es schon wieder zu nieseln. Eine Weile laufe ich ohne Schirm, in der Hoffnung, dass es gleich wieder aufhört. Irgendwann wird aus dem Nieseln ein "Rägele" und ich halte unter einem grossen Baum an, um meine Regensachen rauszukramen. Auf einer Bank unter dem Baum sitzt bereits ein anderer Wanderer. "Ah oui, il pleut. Il pleura tout la journée!", sagt er zu mir. Ich gucke ihn etwas verwundert an, da ich ihn zwar verstehe, aber nicht wirklich auf Französisch vorbereitet bin mitten im Tirol. "Tu veux t'assoir ici? Il y a de la place. Tu viens d'ou? Tu fais une longue randonnée?", plappert er weiter. Ich stelle meinen Rucksack auf die Bank neben ihm, und antworte, während ich weiter nach meinen Regensachen krame, "Oui, je fais la Via Alpina, et toi?" sage ich. Er guckt mich verdattert an. "Mais, mais", stottert er, "tu parles français?!". Ich weiss nicht, ob ich lachen oder mich ärgern soll. Da quasselt er mich ungefragt auf französisch voll, und ist dann überrascht, wenn ihn jemand versteht und sogar auf französisch antwortet? Vermutlich ist ihm das nicht oft passiert bisher. Mit einem Schlag realisiere ich, wer das sein muss: Voltaire, ein anderer Via-Alpina-Wanderer, von dem mir Fabian (Atlantis) erzählt hat, der nur französisch spricht. "Tu es Voltaire?", frage ich. Der Franzose ist jetzt natürlich schwer beeindruckt, dass ihm sein Ruf schon vorauseilt. Ich erwähne, dass Fabian mir von ihm erzählt hat, und für Voltaire gibt es kein Halten mehr. In schnellem Französisch berichtet er von seiner abenteuerlichen Triglav-Schnee-Expedition, rattert alle Via-Alpina-Etappen-Nummern runter, fragt nach, wo Fabian ist, will wissen, wann ich gestartet bin und wie schwer mein Rucksack ist (und hebt ungefragt meinen Rucksack an, meint mit Kennerblick: "Ah, tres lourd, au moins 12 kilo!"). Jetzt bin ich definitiv mehr irritiert als amüsiert, denn sein Rucksack ist auch nicht gerade klein, und er zeigt null Verständnis, dass ich ihm meine komplizierte Via-Alpina-Tour nicht gut auf Französisch erklären kann. Schlussendlich lasse ich die französische Plaudertasche auf seiner Bank sitzen und wandere weiter, bevor ich mich ärgere. Vermutlich meint er es nicht bös, aber ich kann nicht verstehen, wie man eine solche Tour gehen kann, ohne wenigstens einen freundlichen Satz wie "Sorry, ich spreche kein Deutsch/Italienisch/..." in der jeweiligen Sprache zu lernen.
Der restliche Nachmittag ist leider eine langweilige und unangenehme Angelegenheit: es regnet in Strömen, keine Aussicht, der Wanderweg ist eine Schotterpiste, die sich endlos flach durchs Karwendeltal hinzieht, bevor es kurz vor der Hütte noch in weiten Zickzackschleifen 500 Höhenmeter den Berg hochgeht. Wenige Meter vor der Hütte reissen die Wolken auf und der Regen hört endlich auf. Immerhin geniesse ich so noch etwas Aussicht, und das Highlight des Tages ist definitiv mein urchiges Einzelzimmer mit Zirbenholzkissen. Auch das Abendessen schmeckt sehr lecker (in Butter und Parmesan ertränkte Spinatknödel), und so bin ich trotz mühseliger Etappe abends ganz zufrieden. Nach dem Znacht liest der Hüttenwart mangels vorhandenem Netz den Wegzustand und Wetterbericht für alle Hüttengäste vor, der wenig erbaulich tönt, aber irgendwie anachronistisch sympathisch ist.











Man beachte den Schlüsselanhänger - er wird mir noch zur Last....

Als ich am nächsten Morgen vom Karwendelhaus aufbreche, ist es so kalt, dass ich meine Handschuhe tragen muss (das letzte Mal hatte ich diese im Mai in Idrija an - wir haben aber heute den 1. Juli!). Es regnet in Strömen, alles ist vernebelt, ich sehe kaum etwas. In Regenvollmontur stapfe ich weiter auf der Schotterpiste Richtung Binsalm, meinem Ziel für heute. Es geht über zwei Pässe, und ich suche verzweifelt nach einer Abkürzung von dieser unsäglich langweiligen Schotterpiste, die zwar eine prima MTB-Piste ist, aber für Wanderer wirklich zum Einschlafen. Nun, meine "Abkürzung" führt durch dichte, tropfnasse Büsche (noch nässer kann ich nicht mehr werden), über einen Bach ohne Brücke (die Füsse haben eh schon Schwimmhäute) und praktisch den ganzen Tag mit viel Auf und Ab, aber ohne Aussicht. Nur die Gämsen lassen sich blicken, ein kleiner Trost. Erst am Nachmittag hört es endlich auf zu regnen, und den letzten Abstieg nach Eng gehe ich in der Sonne. Die Kühe sind nun überall auf den Almen, das Glockengebimmel schallt von den hohen Wänden des Karwendels. Eine neue Herausforderung, das Vermeiden von frischen Kuhfladen, gesellt sich zu den täglichen Challenges. Abends erreiche ich die Binsalm, und bin positiv überrascht: es gibt eine warme Dusche (ohne Aufpreis), ich habe ein schönes Doppelzimmer für mich alleine, und in der urigen Gaststube serviert man mir ein deftiges Abendessen (Knödel mit Gulasch). All das kostet mich nicht mehr als ein Bett im Schlafsaal in einer Alpenvereinshütte. Beim Abendessen guckt mir dafür ein ausgestopftes Murmeltier über die Schulter, das ist natürlich nicht jederfrau's Geschmack. Beim Ausräumen meiner Rocktaschen erstarre ich - was ist denn das? Da habe ich doch versehentlich den Zimmerschlüssel vom Karwendelhaus mitgenommen - inklusive schwerem Schlüsselanhänger in Form eines Steins. Wie blöd kann man denn sein? Peinlich berührt, lasse ich den Schlüssel in der Binsalm, wo man dafür sorgt, dass ihn ein argloser Wanderer zurück zum Karwendelhaus trägt.




Am nächsten Morgen ist das Wetter endlich besser, zwar bewölkt, aber trocken. Ich steige rasch auf zum Lamsenjoch und geniesse endlich die Aussicht auf die Felswände des Karwendels und eine Gämsengrossfamilie. Leider ist das Vergnügen von kurzer Dauer, der lange Abstieg ins Inntal führt wieder über eine Schotterstrasse. Bergab komme ich zum Glück rasch voran, ich kann fast joggen. Langweilige Wege haben auch ihre Vorteile. Bereits am frühen Nachmittag stehe ich hoch über dem Inntal und erschrecke über den Zivilisationslärm, verursacht vor allem von der Inntalautobahn und dem nahen Flughafen von Innsbruck. Bald darauf erreiche ich den Stadtrand der Silberstadt Schwaz. Im Industrieviertel finde ich einen riesigen Intersport, der auch Seidenschlafsäcke führt, und ersetze meinen von Brandlöchern durchsiebten Hüttenschlafsack. Auch die Einkäufe für die nächsten Tage sind rasch erledigt, bald sitze ich im Hotelzimmer, frisch geduscht, Handwäsche erledigt, und freue mich, zu lesen, dass die Schweizer Nati heute abend erstmals seit über einem halben Jahrhundert im Viertelfinal spielt. Nach einem leckeren Cordon Bleu, einem grossen Bier und einem Schnaps kann ich sogar noch die Nerven für die Nachspielzeit und den Penalty aufbringen. Die Österreicher fiebern solidarisch mit uns Schweizern in der Hotelbar, doch es hilft wenig. Zum Glück bin ich kein grosser Fussballfan, die Enttäuschung hält sich in Grenzen.




Eigentlich wollte ich in Schwaz einen Ruhetag verbringen, doch der Lärm der Stadt geht mir bereits auf die Nerven. Ausserdem ist am nächsten Tag schönes Wetter angesagt, ideal für den luftigen Grat aufs Kellerjoch, denn danach kommt schon wieder schlechtes Wetter. Daher breche ich bereits am Samstag auf zur nächsten Etappe. Es ist der bisher längste Aufstieg an einem Tag, fast 2000 Höhenmeter sind es bis zur Kapelle auf dem Gipfel des Kellerjochs. Trotz der Hitze, aber vor allem wegen der lästigen Fliegen und fiesen Bremsen komme ich rasch voran, die Pausen werden einfach gestrichen. Dennoch ist es eine schöne Wanderung, denn die Alpenrosen sind in voller Blüte, die sonst grünen Hänge der Tuxer Alpen leuchten rosa. Am Nachmittag bin ich endlich oben und geniesse den fantastischen Rundblick auf über 2300 Metern. Nach Norden sieht man nochmals schön in den Karwendel und sogar bis zum Wetterstein, im Süden offenbaren sich die Eisriesen der Zentralalpen, berühmte Dreitausender wie der Grossglockner, Grossvenediger oder Zigmondyspitze sind zu sehen, aber auch die mir unbekannten Zillertaler Alpen, über die ich die nächsten Tage wandern werde, liegen vor mir. 




Auf dem Abstieg lege ich eine kurze Pause in der Kellerjochhütte ein, doch es wimmelt von Familien mit kleinen Kindern, und ich bin froh, hat es keinen Platz mehr für mich zum Übernachten. Der luftige Höhenweg führt weiter zum Kuhmesser und steigt dann steil ab zum Loassattel.

So langsam habe ich genug für heute, und durch das schwülwarme Wetter reibt meine Unterhose mich wund zwischen den Beinen, es brennt - oh nein, einen Wolf gelaufen! Nicht angenehm! Doch es dauert noch fast zwei Stunden, bis ich endlich einen Biwakplatz finde, der alles andere als romantisch ist - gleich hinter dem Kuhzaun im steilen Bergwald, ziemlich schief und es ist kaum genug Platz zum Liegen. Da es aber wieder zu regnen beginnt, kann ich nicht wählerisch sein und stelle das Zelt in Rekordtempo zwischen den Baumwurzeln im steilen Hang auf. Das warme Nachtessen lasse ich ausfallen, da ich nicht wüsste, wie ich den Kocher grade hinstellen kann und mampfe ein paar Cracker und Studentenfutter zum Znacht. Die Hygiene kommt auch zu kurz, ein Feuchttüechli muss reichen heute. 



Mein Zelt stand dort am Waldrand, etwa Bildmitte. 🙈


Ich schlafe dennoch erstaunlich gut, bis der Wecker um halb sechs klingelt. Es hat zum Glück aufgehört zu regnen. Bald schon laufe ich los, die Kühe schlafen wohl noch. Nach etwa einem Kilometer dann kommt der perfekte Biwakplatz: ein Picknicktisch neben dem Wanderweg, dahinter ein flaches Plätzchen zwischen den Alpenrosen, wo die Kühe nicht hinkommen... Seufz. So ist es halt manchmal. Ich nutze den Tisch fürs Kaffeekochen und studiere den Wetterbericht. Da schon wieder starker Regen für die Nacht angesagt ist, buche ich kurzerhand ein Hotel in Finkenberg. Erst später realisiere ich, wie weit weg dies noch ist, und obwohl ich vor sieben Uhr loslaufe, marschiere ich den ganzen Tag ohne längere Pause und komme erst abends um halb sechs im Hotel an. Es ist bewölkt und nieselt öfters. Anfangs geht es durch einen magischen Bergwald, die Bäume tragen lange Bärte. Bereits um zehn Uhr erreiche ich den höchsten Punkt des Tages, das Sidanjoch, ab jetzt geht es nur noch bergab - ein ewig langer Abstieg ins Zillertal. Meine Beine protestieren schon bald, und auch das "Wölflein" zwischen den Beinen meldet sich wieder - doch ich motiviere mich mit der vom Hotel angepriesenen Badewanne, marschiere ohne Unterhose weiter und freue mich aufs Feierabendbier. Ausserdem will ich noch vor dem Regen ankommen. Das schaffe ich auch, nur aus der Badewanne wird leider nichts - gibt es nicht in Einzelzimmern, was für eine Diskriminierung. Dafür habe ich einen schönen Balkon, auf dem ich schon bald dem Regen zuschaue und mein Zelt trockne. Das Feierabendbier schmeckt prima, und auch das Tiroler Lebergeschnetzelte, eine Spezialität des Kochs.




Am Montagmorgen mache ich einen Umweg zum Spar von Finkenberg, der sich für Rucksackträger als unglaublich mühsam entpuppt, weil die Gänge sehr eng sind, und man wie durch ein Labyrinth durch den ganzen Laden gehen muss. Wehe man hat etwas vergessen! Da ist es einfacher, an der Kasse zu zahlen, und den Laden erneut zu betreten, als rückwärts gegen den Strom zu gehen, ich kann mich kaum drehen zwischen den Regalen. So dauert der Einkauf länger als gedacht, doch es ist der letzte Laden in Österreich, die nächste Versorgungsmöglichkeit gibt es erst in ein paar Tagen im Südtirol. Beim Aufstieg durchs Zemmtal treffe ich @nic.nic.na, eine weitere Instagramm-Bekanntschaft, die die Via Alpina wandert (ich habe voll vergessen, zu fragen, wie die junge Frau richtig heisst, ich tippe mal auf Nicole). Wir tauschen uns eine Weile aus, dann läuft jede in ihre Richtung weiter. Auch Nicole ist unglaublich rasant unterwegs, sie ist Mitte Juni in Triest gestartet und als ich sie frage, ob sie gerannt ist, sagt sie locker: "Ja, manchmal schon!". Na, sie ist ja auch noch etwas jünger als ich... Eine schöne Begegnung, es ist einfach spannend, was für unterschiedliche Leute auf diesem langen Weg unterwegs sind.
Der Aufstieg durchs Zemmtal führt wieder durch einen moosigen, magischen Bergwald, vorbei an riesigen Bouldern. Das haben natürlich auch die Kletterer entdeckt. Unter einem Felsen liegen zahlreiche Bouldermatten, und überall sieht man versteckt ein Büsli stehen, eine Yogamatte liegen, ein paar Kreidespuren am Fels. Im mittleren Teil des Tals führt der Wanderweg leider wieder über eine Strasse, die ich teilweise nur mit den Radfahrern, mancherorts aber auch mit dem nicht wenigen Verkehr teilen muss. Es sind auch viele Kletterbüsli unterwegs, denn die Kletterfelsen der "Ewigen Jagdgründe" liegen direkt an der Strasse. Erst hinter der Mautstelle zum Schlegeisspeicher wird es ruhiger. Mittlerweile hat es wieder zugezogen, die ersten Tropfen fallen, als ich endlich die Schlegeisstaumauer erreiche. Mein "Wölflein" protestiert schon seit Stunden, trotz diversen Salben und "unten ohne" - ich weiss nicht, wie ich den Wolf wieder loswerde. Zum Glück ist es nicht mehr weit bis zur Dominikushütte. Es führt auch eine Kletterroute und ein Klettersteig die Staumauer hoch, doch ich nehme lieber den Wanderweg. Der Platzregen wartet genau, bis ich unter Dach bin - danke! Die privat geführte Hütte entpuppt sich als Glückstreffer - der Hüttenwart bietet mir an, meine Dreckwäsche über nacht zu waschen, die warme Dusche ist inklusive, das WLAN stark, das Essen super, die Stimmung familiär und angenehm - und ich erhalte einen ganzen Schlafsaal für mich alleine. Ein Traum für Weitwanderer!




Am Morgen strahlt die Sonne, der Himmel ist blau, die Gletscher des Hochfeiler, gestern abend noch grau, leuchten weiss am Horizont. Es sind auf meiner Route die ersten Gletscher, die praktisch in Gehdistanz zur Via Alpina liegen. 




Vom Frühstückstisch geniesse ich die herrliche Aussicht auf den Schlegeisstausee und die Dreitausender der Zillertaler Alpen, bevor ich mich aufmache zum Pfitscherjoch und der Grenze zu Italien. Der Weg ist stark begangen, da er sowohl bei Mountainbikern (Transalp) als auch bei Weitwanderern (München-Venedig) beliebt ist, und das zu recht - die Strecke durch den Zamser Grund bis zum Pfitscherjoch ist wunderschön. Mit dem Fahrrad wäre mir das aber definitiv zu anstrengend, vor allem mit Gepäck - zu viele Schiebe- und Tragepassagen. Noch am Vormittag erreiche ich das Pfitscherjoch und die Grenze zu Italien. 




Für die anderen Alpenüberquerer geht es hier runter ins Pfitschertal nach Sterzing. Für mich ist der Wandertag noch nicht mal zur Hälfte vorbei. Nach etwa 500 Höhenmetern Abstieg steige ich auf der anderen Talseite wieder auf, Richtung Gliederscharte. Sofort wird es wieder einsam. Der Weg ist wenig begangen, schmal und wunderschön. Zwar muss ich über eine abenteuerliche Schneebrücke und der Anstieg zur Scharte zieht sich über Stunden hin. Dafür ist die Aussicht auf die Gletscher der umliegenden Dreitausender atemberaubend. Ich bleibe oft stehen, zum Verschnaufen, aber auch zum Bewundern der wilden, hochalpinen Landschaft. Endlich geht die Via Alpina so richtig in die Höhe! Dafür muss ich noch ordentlich leiden, mein Wölflein quält mich immer noch, und erst abends um halb fünf erreiche ich die Gliederscharte, mit 2644m der bisher höchste Punkt auf meiner Tour. Oben ist zwar die Aussicht herrlich - doch es hat auch eine riesige Schneewächte, die mir nach Süden den Weg versperrt. Erst kriege ich einen Riesenschreck und heule fast - wie soll ich über diese gewaltige, sicher megasteil abfallende Wächte absteigen, wo ich doch schon total kaputt bin? Auf der Nordseite hatte es erstaunlicherweise kaum mehr Schnee. Nachdem ich kurz tief durchgeatmet habe, laufe ich vorsichtig auf die Wächte - und erblicke erleichtert nur wenige Meter unter mir den schneefreien Wanderweg, die Wächte lässt sich gut und gar nicht so steil wie vermutet absteigen, es sind nur etwa zwei Meter. Was für ein Glück! Ich nehme mir diese Lektion zu Herzen, in Zukunft nicht sofort zu verzweifeln, wenn ich ein scheinbar unüberwindbares Hindernis vor mir habe. 




Ich steige durch matschige Schneefelder ab in Richtung Grindlbergsee, wo ich eigentlich biwakieren wollte, doch der See ist noch schnee- und eisbedeckt, und ich wandere weiter. Ein paar Murmeltiere versüssen mir den Feierabend. Plötzlich entdecke ich auf einer Wiese ein paar hundert Meter unter mir ein winziges Zelt. Mein Weg führt genau daran vorbei, und der Besitzer des Zelts sitzt direkt davor. Wir kommen ins Gespräch, und ich bin nicht überrascht, auf einen anderen Via Alpina-Wanderer zu stossen. François ist in Ukanç in Slowenien gestartet, und folgt ebenfalls der Via Alpina, wobei er die gelbe, rote, grüne, violette und blaue Via Alpina wild durcheinandermischt und auch noch ein paar andere Wanderwege gegangen ist. Ich stelle mein Zelt auf dieselbe Wiese und wir plaudern noch lange, während meine Nudeln kochen. Dann verzieht sich jeder in sein Zelt, und ich geniesse endlich eine Nacht bei offenen Zelttüren auf der Oberen Engbergalm. 


Zwar gibt es keinen Sternenhimmel zu bestaunen, es ist bewölkt, aber es geht ein warmer Wind, und am Morgen ist alles trocken, obwohl ich im hohen Gras stehe. Keine Kondensation im Zelt ist beim Weitwandern eine Riesenfreude am Morgen. Als ich kurz vor sechs aus dem Zelt gucke, stapft François bereits den Berg hoch. Bei mir dauert es länger, bis ich in die Gänge komme, doch um kurz nach sieben schultere ich auch meinen Rucksack. Ich steige weiter ab bis nach Dun bei Pfunders, dann geht es unverdrossen wieder bergauf. Die Via Alpina kennt keine Gnade auf dieser Etappe, jeden Tag sind es weit über 1000 Höhenmeter auf und ab. Auf der Bodenalm klopfe ich vorsichtig an, ob die Küche schon offen ist (es ist erst kurz nach neun). Ich bin bereits reif für ein zweites Frühstück (in dieser Hinsicht bin ich ein wahrer Hobbit) und freue mich über einen grossen Milchkaffee, Speck mit Spiegeleiern und selbstgebackenes Brot. Danach geht es gestärkt weiter zum Eisbruggsee. Zwar soll es heute nicht regnen, sagt der Wetterfrosch, aber die Wolken hängen dunkel am Himmel, ein kühler Wind pfeift mir um die Ohren. Der Eisbruggsee ist zwar schneefrei, aber das kühle Wetter lädt nicht zum Baden ein. Dafür gibt es herzige Murmeli und schöne Alpenblumen zu bestaunen. 




Auf der Edelrauthütte muss ich mich entscheiden: entweder ich steige auf dem Talweg erneut 700 Höhenmeter ab zu einem Stausee, nur um dann auf der andern Seite gleich wieder aufzusteigen zur Chemnitzer Hütte, die ich auf dem Sattel gegenüber bereits sehe. Oder ich nehme den Neveser Höhenweg, der zwar weiter und anspruchsvoller ist, aber viel weniger Höhenmeter aufweist. Auf der Edelrauthütte und dem Weg ins Tal tummeln sich viele Familien mit schreienden, lärmenden Kindern. Ihre Hunde laufen frei herum und jagen kläffend die Murmeltiere. Ein klarer Fall für den Höhenweg, sonst rege ich mich ja eh nur auf. Der Neveser Höhenweg beginnt gleich mit einer "Trail-Taufe", bereits wenige hundert Meter hinter der Hütte sprudelt ein Wasserfall über den in den Fels gehauenen Weg, es gibt keine Ausweichmöglichkeit. Eiskalt geduscht laufe ich triefend weiter. Der Weg verläuft anspruchsvoll, aber schön aussichtsreich über dem Neves-Stausee, in der Ferne erblickt man die Felstürme der Dolomiten. Doch langsam bin ich erschöpft, und es ist noch weit. Es gibt viele Schneefelder zu überqueren und Bäche zu durchwaten. Wegen der Schneeschmelze und den vielen Regenfällen sind die Trittsteine, auf welchen man normalerweise die Bäche trockenen Fusses überqueren könnte, unter Wasser. Eine recht nasse Angelegenheit also. Mein Wölflein zwackt auch wieder, und zu allem Elend verpasse ich eine Abzweigung, weil der Wegweiser am Boden liegt, und steige versehentlich mehrere hundert Höhenmeter auf dem falschen Weg ab, bevor ich meinen Fehler realisiere. Wutschnaubend kehre ich um und stapfe den Berg wieder hoch. Schlussendlich habe ich wohl keine Höhenmeter gespart auf diesem "Höhenweg". Der Himmel wird immer dunkler, und der Wanderweg führt immer höher hinauf, über riesige Schneefelder. Ich höre das Wasser unter mir rauschen, mir ist jetzt nicht mehr ganz wohl. Auf dem Schneefeld liegen riesige Eisbrocken, wahrscheinlich vom Gletscher über mir, den ich in den Wolken nur erahne. Es sieht aus wie in Island oder Norwegen. Ich quere gerade den Ausfluss eines Gletschersees auf einer bereits ziemlich dünnen Schneebrücke, doch es gibt keinen anderen Weg, zurück will ich jetzt auch nicht mehr. Wenige Schritte neben mir tut sich im Schneefeld ein gigantisches schwarzes Loch auf, ich sehe den reissenden Gletscherfluss unter mir durchziehen und über die Felsen in dem schwarzen Loch verschwinden, nur um weiter unten als Wasserfall über die Felskanten zu rauschen. Ich laufe wie auf rohen Eiern daran vorbei, murmle nur mantraähnlich "bitte heb, bitte heb, bitte heb...", bis ich das Schneefeld überquert habe und dankbar auf den glattgeschliffenen Felsen auftrete. Uff! Solche Bilder haben mich mehrfach in Alpträumen geplagt, das Einbrechen auf Schneefeldern in einen darunter fliessenden, reissenden Bach ist meine Vorstellung vom ultimativen  Horror. Ich hoffe, dass ich nun mit dem Überqueren des Gletscherausflusses das Schlimmste hinter mir habe, doch der Neveser Höhenweg ist noch nicht fertig mit mir. Es beginnt nun nämlich noch zu regnen, und die glatten Granitplatten werden plötzlich rutschig. Auf den durchnässten Schneefeldern breche ich oft bis zu den Knien ein, und wo kein Schnee mehr liegt, ist der Weg meist überflutet. Mit wachsendem Horror erkenne ich, dass ich noch über einen zweiten Gletscherbach muss, den ich schon von weitem donnernd ins Tal rauschen höre. Doch diesmal habe ich Glück - es hat eine Brücke, welche Freude! Jubelnd hüpfe ich über den schmalen, wackligen und rostigen Steg. Ich weiss es in dem Moment noch nicht, doch ich habe soeben meinen tausendsten Via-Alpina-Kilometer absolviert. Erst am Abend, als ich meine Kilometer-Statistik nachtrage, fällt es mir auf. Die Brücke über den zweiten Gletscherbach ist das schönste Geschenk zum 1000-km-Jubiläum. Die letzten paar Kilometer des anstrengenden Tages sind dann endlich schnee- und wasserfrei, und ich erreiche kurz danach die Chemnitzer Hütte. Hüttenwart Roland steht schon auf der Terrasse und begrüsst mich freudig, ich bin fast der einzige Übernachtungsgast heute. Drinnen bullert der Ofen, es ist kuschelig warm. Das Ausziehen der nassen Lumpen ist eine Wohltat. Eine Katzenwäsche im eiskalten Waschraum ist schnell erledigt, und bald sitze ich bei einem wohlverdienten Bier in der warmen Stube. Diese füllt sich bald, denn obwohl nur wenige Gäste zum Übernachten bleiben, scheint es unter den Einheimischen eine beliebte Feierabendaktivität zu sein, mal rasch die Trailrunner zu schnüren, zur Hütte hochzurennen fürs Znacht, ein paar Bier und Enzianschnäpse, und dann im Dunkeln mit der Stirnlampe im strömenden Regen wieder bergab zu hoppeln. Ein paar Mountainbiker sind auch da, auch sie geben ordentlich Gas mit Bier und Enzian, bevor sie wieder die Helme und Stirnlampen aufsetzen. Ich verstehe kaum ein Wort des ziemlich urchigen Südtiroler Dialekts, aber es wird ein lustiger Abend. Hüttenwart Roland, seine Frau und erwachsenen Kinder verbreiten eine super Stimmung, es ist urgemütlich. Alle Gäste müssen den Meisterwurz-Schnupftabak des Hüttenwarts probieren. Nach einer leckeren Mahlzeit (Kasnocken auf Krautsalat, Schnitzel mit Bratkartoffeln und ein süsses Glacé-Herz) und vielen Schnaps-Degustationen (an die Fichte, den Enzian und die Schwarzbeere kann ich mich erinnern) sacke ich auf meine Matratze im Lager und höre dem Wind beim Heulen und Toben zu. Zum Glück bin ich nicht im Zelt heute!



Das Schneefeld über den grusligen Gletscherbach (es gibt keine Bilder vom schwarzen Loch, aus Gründen)


Am nächsten Morgen hat sich der Sturm gelegt, während des Frühstücks kann ich die Murmeltiere vor der Hütte beobachten. Leider ist für den Nachmittag bereits wieder Regen und Gewitter angesagt, daher breche ich zügig auf, denn die Via Alpina führt über mehrere Stunden auf dem Kellerbauerweg über einen Grat bis zum Speikboden. Es ist ein schöner Weg, aber bei Gewitter leider absolut ungeeignet - und diese kommen bereits am Vormittag. Daher verlasse ich den Kellerbauerweg bereits nach zwei Stunden und steige schweren Herzens ins Tal ab. Dafür kann ich auf dem Abstieg ein Füchslein beobachten und geniesse ein paar fantastische Blumenwiesen im strömenden Regen. Natürlich kommt die Sonne raus, sobald ich die Teerstrasse auf dem Talboden erreiche. Dafür komme ich rasch voran und freue mich schon auf einen Kaffee oder Eis in Luttach, doch hier findet gerade ein Kettensägen-Bildhauer-Freiluft-Wettbewerb statt und der Lärm ist nicht gerade einladend. Also marschiere ich weiter. Auch Sand in Taufers lasse ich links liegen, denn hier herrscht ein Rummel, wie ich ihn seit Kranjska Gora nicht mehr erlebt habe. Es scheint, als hätten die Schulferien begonnen, denn alles ist voller Touristen. Mein Tagesziel liegt noch ein paar Kilometer die Strasse runter in Kematen, doch auch mein Hotel ist belagert von italienischsprachigen Familien mit viel zu vielen (und viel zu lauten) Kindern für meinen Geschmack. Es lebe der schmackhafte und günstige Rotwein, der mir den Abend rettet und die Nerven schont.



Die Via Alpina würde von hier via Gemsbichljoch und Grüblscharte noch über zwei weitere, hohe Bergketten bis ins Gsieser Tal führen. Doch meine Beine sind müde von den vielen Höhenmetern der letzten Tage, und eine meiner Via-Alpina-Bekanntschaften erzählte mir, dass ich mehrere Stunden durch ein riesiges, anstrengendes Schneefeld bergauf stapfen müsste zur Rieserfernerhütte auf 2800 Metern. Ausserdem will ich bis zum Wochenende zuhause sein, da Svens Schulferien beginnen und wir ein paar Tage zusammen wandern können. Wenn ich durchs Tal laufe, sind es bis nach Welsberg im Pustertal, wo ich meine Via-Alpina-Route für die 2. Impfung unterbrochen habe, nur noch etwa 30 km. Das will ich unbedingt an einem Tag schaffen, so kann ich am Samstag heimfahren. Da es fast nur geradeaus geht, ist das kein Problem. Es soll ein schöner, aber glücklicherweise nicht zu heisser Tag werden, und ich komme gut voran. Zwar gehe ich fast den ganzen Tag auf dem geteerten Radweg, doch ich lenke mich ab mit einem Hörbuch. Der ansonsten etwas langweilige Tag geht so rasch vorbei. Bereits am frühen Nachmittag erreiche ich Olang, wo es einen Campingplatz gibt, denn die Hotels in Welsberg (und eigentlich im ganzen Pustertal) sind mittlerweile viermal so teuer wie noch Anfang Juni. Das Zelt steht schnell, ich werfe alles ausser ein paar Snacks, Wasserflaschen und Geldbeutel ins Zelt und laufe zum Bahnhof von Olang. Im Hotel heute morgen erhielt ich eine Gästekarte, die eine Woche gültig ist und mich alle öffentlichen Verkehrsmittel im Südtirol nutzen lässt, und ich will die Strecke von Olang nach Welsberg nicht doppelt laufen. Kurz danach steige ich in Welsberg aus und laufe noch bis abends um acht zurück auf den Zeltplatz, wo ich dann doch recht kaputt bin. 32 km, 50'000 Schritte - ein neuer Tagesrekord für mich. Die Dusche auf dem Campingplatz ist leider nur ein Rinnsal, entweder kochheiss oder gletscherwasserkalt, und ich tröste mich damit, dass daheim dann eh alles in die Wäsche kommt. Es ist schon fast dunkel, als ich meine Spaghetti Bolo auf dem Kocher wärme, rundherum hat sich der Zeltplatz ordentlich gefüllt, und es kehrt erst kurz vor Mitternacht Ruhe ein. Es herrscht definitiv Sommerferienstimmung, mit der Ruhe und Einsamkeit auf meiner langen Wanderung ist es wohl jetzt bis Ende August vorbei. 



Am Samstag breche ich mein Zelt ab, bevor die Sonne über den Berg kommt, und steige bereits um sieben Uhr in den Zug zurück in die Heimat. Mit italienischen Verspätungen und einigen anstrengenden Sprints an den Anschlussbahnhöfen (keine Leichtigkeit mit dem schweren Rucksack und der FFP2-Maske) schaffe ich es diesmal in knapp sieben Stunden nachhause, wo ich mich erst mal ausruhe, meinen Wolf ordentlich kuriere und ein paar heftige Gewitter vorbeiziehen lasse. Nächste Woche geht es in Liechtenstein weiter, endlich wieder in die "richtige" Richtung, nach Monaco. Ausserdem wird mich Sven ein paar Tage begleiten, und ich werden endlich die Schweizer Grenze auf der Via Alpina überqueren - ich freue mich sehr!






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