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Dolomitenhigh




Wanderlust 2021, Woche 23: 

Am Montagmorgen breche ich gemütlich in Campolongo mein Zelt ab, denn die heutige Etappe ist nicht sehr weit - nur einmal über den Berg auf einer Mountainbike-Route, gar nicht anstrengend, behauptet mein Navi. Könnt ihr das Universum auch bereits fies lachen hören?


Nun, es beginnt nicht schlecht, ich hole mir beim Bäcker ein paar leckere Gipfeli zum Zmorge, doch der Kaffee auf dem Dorfplatz fällt aus, den der Verkehrslärm dort ist nicht auszuhalten. Ich marschiere also mit leerem Magen los, Bäckertüte in der Hand, in der Hoffnung, bald ein gemütliches Plätzchen zu finden, doch das dauert. Am Dorfausgang muss ich den ersten Umweg machen, weil der Wanderweg gerade von einem Bagger umgegraben wird. Dann geht es gleich steil zur Sache, und ich muss erst ein paar hundert Höhenmeter den Berg hoch schnaufen, bis ich den Verkehrs- und Baggerlärm hinter mir lasse.





Zeit für mein Frühstück! Doch kaum ist der Kaffee gebrüht, fängt es an zu regnen. Ich trinke meinen Kaffee unter dem Schirm und tue mir ein bisschen leid. Schliesslich laufe ich gestärkt weiter, doch irgendwie komme ich nicht vom Fleck heute. Der Weg verläuft zwar schön durch den Wald, aber mittlerweile habe ich so viele Wälder gesehen, dass sie mir zum Hals raus hängen. Ausserdem gibt es mal wieder Dutzende von Hürden in Form von umgestürzten Bäumen zu überwinden. Als sich der Wald endlich lichtet, sind die Berge von Wolken verhangen, man erahnt nur die fantastischen Felszinnen der Dolomiten.





 Es regnet immer noch, als ich eine vermeintliche Abkürzung finde, die jedoch mitten im Wald aufhört - ich muss alles wieder zurück. Endlich habe ich den höchsten Punkt erreicht - ich merke es nur, weil es plötzlich abwärts geht, Aussicht habe ich keine. Erneut verpasse ich eine Abzweigung und merke es erst nach etwa einem Kilometer. Also wieder zurück den Berg hoch… Dann pinkle ich mir versehentlich noch auf den Rock, und könnte heulen vor Frust. Es ist nicht mein Tag heute, und als mich noch zwei nicht angeleinte Hunde anspringen, bin ich definitiv sauer.



 

Endlich komme ich unten aus dem Wald. Doch schlagartig bessert sich meine Laune: die Sonne kommt raus, der Weg führt direkt auf den Damm des Stausees von Auronzo di Cadore, der in einem wunderschönen Grün strahlt und ein toller Kontrast bildet zu den Dörfern und dahinter den mächtigen Dolomiten. Endlich Aussicht! Die Mühen haben sich gelohnt. Zwar verbergen sich die berühmten Drei Zinnen noch in den Wolken, aber ich kann zahlreiche andere Dolomitengipfel ausmachen.





 Während ich den See umrunde bis zu meinem Hotel, gucke ich auf meinen Schrittzähler und merke, dass ich soeben exakt 500 km gelaufen bin. Wow! Und noch an so einem schönen Ort dazu! Vergessen ist der Ärger, ich male strahlend eine 500 in den Sand und mache ein paar schöne Fotos. So cool! Damit habe ich 20% der Via Alpina erreicht. Das ist zwar noch nicht wirklich viel, aber ich freue mich riesig. 





Da ich hier einen Ruhetag einlegen will, gönne ich mir ein richtiges Hotel statt ein abgelegener Campingplatz und kriege gleich ein Bier aufs Haus zur Begrüssung. Hier gefällt es mir. Abends muss ich zwar weit gehen, bis ich ein offenes Restaurant finde (es ist Montag und Ruhetag für die meisten), doch das Essen schmeckt vorzüglich. Voller Optimismus und wieder gut gelaunt schlafe ich ein. 




Am nächsten Morgen stehen zwei wichtige Punkte auf dem Programm: Erkundungen einholen über die Schneelage und den Wegzustand rund um die Drei Zinnen, sowie neue Schuhe. Meine sind komplett abgelatscht und haben kaum mehr Profil. Ich klappere also erst mal die zahlreichen Sportläden in Auronzo ab, doch irgendwie ist die Auswahl sehr ernüchternd. Es gibt hier nur italienische Billigmarken, die alle ausnahmslos so schmal geschnitten sind, dass nur zarte kleine Mädchenfüsse reinpassen (auch bei den Herrenmodellen). Ich frage einen Trailrunner auf der Strasse, wo er seine Schuhe her hat, doch der schüttelt nur den Kopf: “Im Internet bestellt - hier findest du kaum etwas Vernünftiges!” Als ich mich in den Sportläden nach dem Wanderweg zu den Drei Zinnen erkundige, werde ich ernüchtert: entweder hat die Dame keine Ahnung oder traut mir nichts zu (sie behauptet erst, es gäbe gar keinen Weg von Auronzo, bis ich ihn ihr auf der Wanderkarte zeige, dann meint sie, das sei “unmöglich” zu gehen). Auf der Touri Info ist man noch weniger hilfsbereit oder informiert, denn dort sagt man mir, ich müsse ein Auto haben, es gehe nur eine Strasse hoch zu den Drei Zinnen, und überhaupt, es sei “noch nicht möglich”. Die hilfreichste Information kriege ich noch in einer inoffiziellen Informationsstelle, die eigentlich nur schöne Bergbilder der Dolomiten ausstellt: dort hat die Frau eine Liste der Daten, wann die Hütten öffnen. Es dauert noch mindestens zwei Wochen, bis die ersten aufmachen. Auch sie ist der Ansicht, dass es noch zu viel Schnee hat, um zu Fuss zu den Drei Zinnen zu gehen, obwohl es von hier aus schon recht schneefrei aussieht. Auf den Hütten selber nimmt keiner das Telefon ab, obwohl die Auronzohütte offensichtlich besetzt ist, denn sie posten bereits Bilder auf Facebook - auch von der tief verschneiten Nordseite der Zinnen. Ich kann nicht herausfinden, ob es einen Winterraum oder sonst ein Biwak gibt da oben. Die Temperaturen auf 2300m sinken noch auf null Grad in der Nacht, und es sind Gewitter angesagt die nächsten paar Tage. Schlussendlich gebe ich meinen Traum, wenigstens an den Drei Zinnen vorbeizuwandern, auf. Es ist mir einfach zu riskant. Da es in den Dolomiten ein strenges Zeltverbot gibt (fast die ganze Route führt durch Nationalpärke), verbringe ich den Rest des Nachmittags damit, mir eine Route unter 2000m zu suchen, an der ich abends an ein geöffnetes Berghotel komme, und buche gleich für die nächsten drei Tage. Das wird zwar teuer, aber ich brauche jetzt irgendwie diesen Trost, dass ich abends in eine warme Dusche und ein kuscheliges Bett steigen kann, wenn ich schon wieder auf Strassen und Mountainbike-Routen wandern muss. 



Am nächsten Morgen breche ich früh auf, denn es sind 26 km und fast tausend Höhenmeter nach Misurina. Glücklicherweise gibt es einen Mountainbike-Trail, so dass ich nur ganz kurz auf der Strasse laufen muss. Der Biketrail ist auch sehr schön geführt, weg von der Strasse, durch lichten Berg- und Auenwald, so dass man immer Aussicht auf die fantastischen Berge rundherum hat. Ich geniesse die Ausblicke auf Monte Cristallo, Sorapiss, die Marmarole-Gruppe und die Sextener Dolomiten. Alle paar Kilometer hat man gedeckte Picknicktische und Mülleimer hingebaut, so dass ich die gelegentlichen Regenschauer gut bei einem Kaffee aussitzen kann.





Trotz vieler Pausen erreiche ich Misurina vor dem grossen Abendregen, was mich sehr freut. Das teure Grand Hotel wird wenigstens seinem Namen gerecht, ich habe ein schönes, gediegenes Zimmer mit Blick auf den See. 






Am nächsten Morgen erleide ich kurz einen Schock beim Frühstück - obwohl ich gleich bei Öffnung des Frühstücksaals dort bin, ist er bereits rappelvoll. Zwei grosse Reisebusse sind in dem Hotel abgestiegen, und es geht zu wie zu “Vor-Corona-Zeiten”, ich werde von ungeduldigen Rentnern vor dem Käsebuffet geschubst, und vor der Kaffeemaschine gibt es eine lange Schlange. Nichts wie weg hier! Die ersten paar Kilometer laufe ich auf der Strasse Richtung Toblach, da es hier keinen Wanderweg im Tal gibt. Kein Vergnügen, denn hier herrscht Verkehr, und man nimmt keine Rücksicht auf mich. Glücklicherweise ist es nicht weit.




In Schluderbach verlasse ich die Strasse und finde endlich einen schönen Bergwanderweg hoch zur Plätzwiese, meinem Tagesziel. Der Wanderweg kreuzt sich immer mal wieder mit dem Biketrail, wo sich Scharen von Mountainbiker (mit und ohne Strom) den Berg hoch quälen. Es ist krass, wie diese kleine Ecke in den Dolomiten bereits so überlaufen ist, obwohl weder Schulferien noch Wochenende ist. Wochenlang hatte ich kaum einen Menschen gesehen, was mir ehrlich gesagt lieber ist als das hier. Es geht zu wie am Alpstein. Dafür unterhalte ich mich sehr nett mit Paula, einer Mountainbikerin aus Cortina, die mich über meine Reise ausfragt, das ist auch mal wieder schön. Bereits am frühen Nachmittag erreiche ich die wunderschöne Plätzwiese, eine Hochebene auf fast 2000 Metern, die in voller Alpenblumenpracht erblüht. 







Kein Wunder, ist es hier so beliebt - man hat tolle Aussichten, schöne Blumen am Weg, kann mit dem Auto hochfahren und dann fast flach wandern. Ich versuche, die vielen Menschen auszublenden, geniesse ein Bier auf der Terasse der Dürrensteinhütte (leider noch nicht zum Übernachten geöffnet), dann fotografiere ich wie eine Besessene die blauen Enziane, gelben Trollblumen und pinken Primeln. Auch heute habe ich Glück - der Regen erwischt mich nicht, am Mittag sitze ich gemütlich unter einer mächtigen Tanne beim Kaffeetrinken, als der erste Guss runterkommt, und beim abendlichen Gewitter-Hagel sitze ich bereits beim Aperol Spritz in meinem gediegenen Berghotel “Hohe Gaisl”. 




Zwar ist meine Kreditkarte nicht super happy über diese teuren Hotels, doch es bleiben mir keine (legalen) Alternativen. Ausserdem ist hier ein 5-Gang-Abendessen im Preis von 90 Euro inbegriffen: Antipasti und Salatbüffet, dann ein Pastagericht, ein Fleisch- oder Vegigericht, ein Tiramisu und zum Abschluss ein Käse- und Früchtebüffet, wobei ich niemanden gesehen habe, der letzteres noch in Anspruch nahm - auch ich hungrige Wandererin kämpfe schon beim Tiramisu ganz mächtig. (Anfängerfehler, ich habe mich bei den Antipasti nicht zurückhalten können). Erschöpft vom vielen Essen sinke ich in mein bequemes Hotelbett. 




Der nächste Morgen ist trüb, und es wird noch trüber - bald regnet es wieder. Heute verlasse ich die Dolomiten und steige ab ins Pustertal. Erst geht es noch über einen schönen Berg-, dann Waldweg nach Prags, aber dann zieht es sich auf der Pustertal-Fahrradroute bis Welsberg.



Mittlerweile ist die Sonne wieder da und brennt gnadenlos vom Himmel. Hier unten im Tal herrscht Hochsommer, es ist heiss und das Wandern auf der geteerte Radroute ist anstrengend. Trotzdem erreiche ich Welsberg früh, und so bleibt mir Zeit für ein paar wichtige Dinge. Nach dem Checkin besuche ich als erstes die Touri Info. Auch hier stosse ich nicht gerade auf bergbegeisterte Mitarbeiterinnen, doch immerhin sind sie etwas motivierter, ein paar Sachen für mich zu recherchieren, zum Beispiel, ob die Rieserfernerhütte bereits offen hat, und ob man über die nächsten paar Pässe kommt. Ab hier wendet sich die Via Alpina nach Norden in die Ostalpen, erst geht es ins Rieserferner-Gebirge, dann durch die Zillertaler Alpen nach Österreich. Gleich die nächste Etappe führt auf über 2300m, und die übernächste dann auf 2800m. Die Hütten dort öffnen erst im Juli, was nicht verwundert dieses Jahr. Obwohl vom Pustertal aus alles grün und schneefrei aussieht, sieht die Schneelage weiter hinten in den Seitentälern anders aus. Um mich nicht in Gefahr zu bringen, müsste ich also wieder weite Umwege durchs Tal laufen, potenziell auf heissen Radwegen oder aussichtslosen Forststrassen. Davon habe ich definitiv die Nase voll. Auch im hiesigen Sportgeschäft finde ich keine Schuhe, die mir passen, und daher sitze ich bald in einer Gartenbeiz bei einem Hugo. Die frustrierende Schuh- und Schneelage macht mir wenigstens eine Entscheidung leichter: ich fahre bereits am Samstag nachhause, obwohl mein Impftermin erst am Mittwoch ist. Ein Alptraum in der Nacht, in dem ich über extrem steile Schneefelder auf einen Pass steige und eine Nassschneelawine auslöse, nur um oben festzustellen, dass ich auf der anderen Seite nicht runterkomme und festsitze, hilft mir auch, mich wohler zu fühlen mit meiner Übervorsichtigkeit. 




Nach einer etwas schlaflosen Nacht (die Italiener haben lautstark ihr erstes EM-Spiel gewonnen) marschiere ich früh am nächsten Morgen zum Bahnhof und mache mich auf den langen Heimweg. Obwohl mir der Weg länger vorkommt (ich muss öfter umsteigen und verbringe die grösste Zeit in irgendwelchen Bummelbahnen und Bahnersatzbussen), sind es nicht mal mehr acht Stunden bis heim ins Appenzellische. Meine Anfahrt nach Koper und Cerkno waren noch über 12 Stunden lang. In den letzten 4 Wochen bin ich als 4 ÖV-Stunden gewandert. Nicht schlecht!




Ich komme jedenfalls früh am Abend an und bin schon geduscht und halbwegs präsentabel, als Sven von der Arbeit kommt. Wir verbringen den Abend gemütlich mit den Nachbarn beim Grillieren, ich lerne unsere neue Mitbewohnerin Nora kennen, die während meiner Abwesenheit zur Welt gekommen ist. Am Sonntag machen Sven und ich uns einen gemütlichen Tag beim Cervelat-Bräteln und Fussbaden an der eiskalten Sitter.





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