Wanderlust 2021, Woche 22:
Als ich am Sonntag aus meinem Zelt krabble, ist alles trocken, und obwohl es noch frisch ist, zeigt sich die Sonne zögerlich am Himmel. Ich packe zusammen und steige weiter auf, es geht steil durch den Wald. Ich habe den Eindruck, dass dieser Abschnitt des karnischen Höhenwegs kaum begangen wird, denn der Weg lässt sich oft nur erahnen. Glücklicherweise ist er gut markiert. Nach kurzer Zeit erreiche ich die erste Alp, die Göriacher Alm. Sie ist noch verlassen, alle Hütten sind verriegelt, die Brunnen abgestellt. Eine riesige Glocke hängt auf der Alm, ich muss sie natürlich läuten. Etwas unheimlich hallt der Glockenschlag über die Berge - ansonsten ist es totenstill. Ich vermisse das Pfeifen der Murmeltiere. Ein Adler ist offenbar derselben Meinung, er kreist suchend über mir. Dafür ist die Aussicht fantastisch, und ich geniesse mein zweites Frühstück, während ich das Panorama der julischen Alpen bestaune. So schade, konnte ich diese Berge nicht durchwandern! Aber die Schneemassen dort sind gewaltig, es sieht noch sehr winterlich aus.
Ich wandere weiter auf einem alten Kriegspfad. Etwas versteckt sieht man auch immer wieder alte Bunkeranlagen. Auf dem Karnischen Höhenzug war ebenfalls eine Front (im ersten Weltkrieg), und es gibt zahlreiche Ruinen und Mahnmale zu sehen in den nächsten Tagen. Der Karnische Höhenweg heisst auch “Friedensweg / Sentiero de la Pace”.
Friedlich bleibt es aber nur kurz, denn schon bald stosse ich auf meinen Erzfeind Nr. 1 der nächsten Tage: Schnee- und Sturmschäden. Zu Hunderten liegen umgestürzte, entwurzelte, abgebrochene, zersplinterte Bäume auf dem Weg. Es wird noch Monate dauern, bis das alles geräumt ist. Bis dahin trainiere ich meine Limbodance-Moves und Hürdenlauftechnik. Mehrfach bleibe ich irgendwo hängen, zerkratze mir die Beine blutig und komme nur langsam voran. Hinter dem ersten Gipfel der karnischen Alpen, dem Kapinberg, zeigt sich auch Erzfeind Nr. 2, der Schnee. Erst mal stellt er mich nur kurz auf die Probe, eine fiese Traverse, dann ein steiler Abstieg durch den Wald, mit einem Abgrund zur Rechten. Mit lustig Schneefelder runterrutschen ist hier nix, ich ziehe meine Spikes an und stapfe vorsichtig bergab. Doch bald schon ist der Schnee weg, es bleiben nur die Sturmschäden, und schliesslich geht der Weg in Sumpf und Schlamm über. Es ist eine wahre Freude. *Ironie*. Macht nichts, meine Schuhe sind schon lange nicht mehr trocken, und ich schaffe es, mich nicht der Länge nach hinzulegen - bis kurz vor Feierabend. Beim Abstieg zur Feistritzer Alm kann ich endlich ungefährlich ein paar Schneefelder runterrutschen. Doch die Überraschung lauert am Ende des Schneefelds, getarnt als harmlose Wiese, die jedoch total unter Wasser steht, was ich erst merke, als ich - in einem hollywoodreifen Slapstick-Move - in der Horizontale auf der Matschwiese zum Liegen komme. Schade, ist sonst kein Mensch in der Nähe. Sie hätten sich alle schlappgelacht.
Auch auf der Feistritzer Alm ist noch alles geschlossen, und es geht ein eisiger Wind, daher steige ich noch ab bis zum Rifugio Nordio-Deffar. Ich habe Glück, es ist belebt, wobei die letzten Gäste gerade am Aufbrechen sind. Das Rifugio ist noch nicht zum Übernachten geöffnet, und nur am Wochenende bewirtet. Ich frage, ob ich mein Zelt daneben aufschlagen darf, und man bietet mir den Winterraum an - noch besser, da windgeschützt. Ausserdem kriege ich noch ein wohlverdientes Feierabendbier, bevor sich die Hüttenwarte verabschieden. Ich bleibe als letzter Mensch oben auf dem Berg (so scheint es mir zumindest) und verbringe meine erste Nacht in Italien sehr entspannt.
Am Montagmorgen strahlt die Sonne auf der Dolinza Alm. Mir steht heute erst mal ein Aufstieg auf den Sattel unter dem knapp 2000m hohen Starhand bevor. Der Aufstieg wäre sehr schön, wenn da nicht die Hälfte des Weges blockiert wäre mit umgestürzten Bäumen. Mit dem schweren Rucksack ist es oft ein bisschen Tetris, ob es besser drüber, drunter oder aussenrum geht. Im Aufstieg ist das alles doppelt anstrengend, und ich habe das Gefühl, dass ich viele extra Höhenmeter mache. Andererseits werden mal wieder andere Hirnzellen aktiviert (Kreativität ist gefragt), das ist auch nicht schlecht.
Auf dem Sattel angekommen, zeigt sich das Nord-Südhang-Phänomen ganz krass. Während der Aufstieg auf den 1860m hohen Sattel auf der Südseite fast komplett schneefrei ist, muss ich auf der Nordseite eine rechte Wächte übersteigen und dann im tiefen Schnee steil durch den Wald absteigen. In die Wächte kann ich gut Stufen schlagen, da der Schnee zum Glück aufgeweicht ist, aber es ist anstrengend. Danach habe ich ausserordentliches Glück: ein Steinbock ist wohl am Tag vorher im weichen Nachmittagsschnee genau auf dem Wanderweg (der natürlich unsichtbar unter meterweise Schnee liegt) abgestiegen. Seine Hufe sind so tief eingesunken, dass sie für mich die perfekten Tritte ergeben. Ich danke dem unbekannten Trailblazer und steige daher recht zügig und sicher ab zur Görtschacher Alm. Hier sehe ich zum ersten Mal ein Murmeltier (naja, also, ich sehe einen borstigen Schwanz im Watschelgang um die Ecke zischen). Kurz darauf höre ich sie auch pfeifen - YES! Wenn die Murmeli wach sind, ist der Sommer in den Bergen bald da. Ausserdem gehört das Geräusch einfach zu einer Alpenwanderung dazu, ansonsten ist es furchtbar still. Leider noch kein Fotobeweis, aber das kommt schon noch.
Ich steige lange durch den Wald ab, muss auch durch einen Bach waten, der vermutlich im Sommer nur ein Rinnsal ist, mir aber jetzt noch ordentlich nasse Schuhe bereitet. Im Aufstieg muss ich wieder viel Gymnastik um umgestürzte Bäume machen und frage mich, ob ich die erste bin, die diesen Weg im 2021 geht - es wirkt total verwildert, ich komme mir vor wie in Sibirien oder so. Endlich erreiche ich die Egger Alm, und hier sehe ich auch Menschen vor den Hütten sitzen, denn sie ist per Auto erreichbar. Weiter will ich heute nicht mehr, ich bin kaputt. Die Alm ist schön gelegen, und noch schöner finde ich, dass es ein Gasthaus (“Bei Rudi”) gibt, welches geöffnet und offensichtlich beliebt ist, denn es sitzen Leute auf der Terrasse. Ich frage nach einem Bett, und nachdem das bejaht wird, nach einem grossen Bier. Die anderen Gäste lachen und fragen, wo ich denn herkomme. Als ich erzähle, dass ich auf dem karnischen Höhenweg bin, erklären sie mich für verrückt und meinen, dass ich nie und nimmer weiterkomme von hier, es lägen Rekordmengen an Schnee in den karnischen Alpen. Das überrascht mich jetzt nicht wirklich, das ist ja im ganzen Alpenraum so dieses Jahr. Das war mir ja auch bewusst, als ich so früh auf die Via Alpina aufbrach - ich wollte einfach genug Zeit haben, da ich eine Extremlangsamwandererin bin, und schauen, wie weit ich komme. Ich geniesse meine karnischen Nudeln, mein herziges Winz-Kämmerchen ohne Strom und Handynetz sowie das liebevoll eingerichtete Gemeinschaftsbad. Das Gasthaus Rudi kann man nur weiterempfehlen! Spannend finde ich auch meine Tischnachbarn, die sich in einer seltsamen Sprache unterhalten. Mal verstehe ich ein Wort, dann wieder gar nichts. Als ich nachfrage, lerne ich was Neues: sie reden Windisch, ein Mix aus Kärntnerisch und Slowenisch, ein Dialekt, den es nur in dieser Ecke gibt.
Am nächsten Morgen sitze ich beim deftigen Frühstück in der Gaststube, als eine Schar Arbeiter zum Kaffee kommen. Sie renovieren irgendein Hotel in der Nähe und der Chef erklärt mir genau, wo die Probleme auf der nächsten Etappe liegen, und was ich in Nassfeld, einem Skigebiet/Pass, um diese Jahreszeit vorfinden werde (nicht viel, wie sich herausstellt). Sie geben mir die Namen der dortigen Handwerkerfirmen, die mich abends mit ins Tal nehmen könnten, und welches Hotel vielleicht offen wäre. Mit diesen Infos laufe ich frohen Mutes los. Bald wechselt der Weg wieder auf die italienische Südseite, und für ein paar Kilometer ist es herrlich. Schneefrei, dennoch ein alpiner Weg und sommerliche Temperaturen.
Doch schon bald wechselt der Weg wieder zu den Österreichern, “back to the shadows”, und zurück zum Schnee. Es ist einfach nur anstrengend, eine komplett vom nassen Schnee bedeckte Forststrasse bremst mich aus. Doch dann geht die Forststrasse über in einen schmalen Bergweg, der sich an den steilen Nordhang klammert, und der Weg verschwindet unter steilen Schneefeldern. Ich ziehe meine Spikes an, doch es ist bereits Nachmittag, der Schnee ist nass und total aufgeweicht. Meine Trekkingstöcke versinken teilweise bis zum Griff im Schnee - mir schwant Übles, nämlich dass diese Nassschneefelder total unterhöhlt sind. Man hört auch das Wasser rauschen überall. Ich traue mich kaum, ernsthafte Stufen in den Schnee zu schlagen, aus Furcht, dass ich mitsamt dem ganzen nassen Zement ins Tobel unter mir rutsche. So zittere ich über die steilen Schneefelder und bin dankbar, dass an den kritischen Stellen alles hält. Ein paar kleine Schneebrücken brechen unter mir ein, doch nasse Füsse habe ich eh schon, und ich breche nie mehr als einen halben Meter tief ein. Dennoch, ein unangenehmes Gefühl.
Nach einer Kletteraktion in ein Wildbachtobel und auf der andern Seite wieder raus (alles zwischen Bäumen, Schnee und Felsen) erreiche ich endlich die aperen Skipisten der Garnitzenalm, die bereits zum Skigebiet Nassfeld-Sonnenalpe gehören, meinem Tagesziel. Nun wird es leicht, denn über den nächsten Pass führt eine Schotterstrasse, die fregepflügt ist bis auf 1850m und netterweise auch auf der andern Seite ins Tal. Ich stapfe vorbei an der Garnitzen-Bergstation und erblicke vor mir den mächtigen Trogkofel (rechts) und den Hinterrosskofel (links).
Dazwischen liegt noch so viel Schnee, dass ich mich wundere, wieso hier niemand mehr Ski fährt. Die Via Alpina führt genau mitten durch. Die Aussicht ist fantastisch und gleichzeitig furchterregend. Entmutigt ob diesem Anblick steige ich ab. Es scheint, dass mein Abenteuer auf dem Karnischen Höhenweg vorerst vorbei sein wird, und daher will ich nochmals eine Nacht in den Bergen verbringen. Daher steuere ich das Berghotel Plattner auf der Watschiger Alm an, eines der wenigen offenen Hotels. Dort werde ich nicht gerade freundlich begrüsst. “Eine Weitwandererin? Und sie haben nicht reserviert? Wenigstens geimpft, genesen oder getestet?” werde ich mindestens fünf mal gefragt, und von mindestens ebenso vielen Personen durchgereicht, bis irgend jemand sich befugt fühlt, mich aufzunehmen. Die Weitwandererunterkünfte sind noch nicht bereit, und “da ich ja nicht reserviert habe”, sind sie nun völlig überrumpelt. Ich bin etwas genervt. Mir ist sehr wohl bewusst, wie wichtig es für eine Berghütte ist, dass sich die Gäste ankünden, um ihre Mahlzeiten und Betten planen zu können. Doch hier handelt es sich um ein riesiges Berghotel, welches per Strasse erreichbar ist, und auf der Terrasse sitzen Dutzende von Tagesgästen, die trinken und essen, bestimmt hat sich keiner von denen angemeldet. Man nötigt mich mehr oder weniger, ein teures Hotelzimmer zu nehmen, weil alles andere nicht zumutbar wäre fürs Personal. Es ist auch das erste Mal, dass man meinen Impfausweis sehen will und mir die ganzen Covid-Regeln heruntergebetet werden. Ich wünsche mir schon fast, ich wäre mit den Arbeitern ins Tal gefahren, aber schlussendlich kommt alles gut, nur meine Kreditkarte schmollt. Ich lasse das Geld fürs Hotelzimmer springen, geniesse ein leckeres Schnitzel zum Abendessen und einen wunderschönen Sonnenuntergang unter den tief verschneiten Bergen mit einem Aperol Spritz in der Hand. Irgendwann gesellt sich der Patron noch an meinen Tisch und gibt mir bereitwillig Auskunft über den weiteren Weg, bzw. die Alternativen, und ich bin wieder versöhnt.
Nun muss ich entscheiden, wie es weitergehen soll. Dass ich ins Tal absteigen muss, scheint klar - ohne Skis und Hochtourenerfahrung geht hier nichts mehr. Doch welche Talseite? Auf der österreichischen Seite könnte ich bis ins Südtirol einem Pilgerweg folgen, flach, einfach und vermutlich logistisch die einfachste Lösung. Allerdings tönt dies furchtbar langweilig. Auf der italienischen Seite muss ich mir den Weg selber suchen. Es gibt ein paar Wanderwege, auch einen Pilgerweg, einen alten Römerweg und viele kleine, kaum befahrene Strassen, welche über nicht allzu hohe Pässe die Täler des Friaul verbinden. Man warnt mich, dass die Dörfer alle verlassen seien wegen der steten Landflucht, doch ich versuche mein Glück in Italien. Es ist die Sonnenseite der karnischen Alpen, und zumindest scheint gesichert, dass ich regelmässig an einer Pizza, einem guten Kaffee und einer Karaffe Wein vorbeikomme. So steige ich auf der Passstrasse ab nach Pontebba. Natürlich ist es frustrierend, zu Fuss eine Passstrasse zu laufen - wie toll wäre dies mit dem Fahrrad! Dennoch ist es nicht langweilig, ich sehe ein Reh, Eichhörnchen, Kriegsruinen und wandere durch einen Tunnel. Bald erreiche ich Pontebba. Die abendliche Pizza schmeckt hervorragend, nur die Nacht ist etwas laut - dünne Wände, schnarchende Zimmernachbarn, lautes Diskutieren bis nach Mitternacht, Türen schlagen. Zivilisation halt. Und vielleicht auch ein bisschen Italien.
Am nächsten Tag laufe ich erst mal zur Post und schicke ein paar unnötige Dinge nachhause. Fast ein Kilo kann ich so loswerden. Das Prozedere auf der Posta Italiana ist kompliziert und das Paket ist auch nach über einer Woche noch unterwegs. Danach wandere ich ins Val Pontebana rein. Ein paar Stunden folge ich der Strasse, dann finde ich eine Abkürzung in Form eines abenteuerlichen Wanderwegs ins Nachbartal. Gleich zu Beginn muss ich einen Bergbach durchwaten, das eisige Wasser kommt mir bis zu den Knien. Danach kämpfe ich mich steil durch einen zeckenverseuchten Wald und die üblichen Sturmschäden bis auf 1600m hoch. Es ist bereits später nachmittag, als ich völlig kaputt oben ankomme. Hier sehe ich wieder Murmeli, ansonsten ist die Alp noch verlassen.
Es gibt ein Biwak des italienischen Alpenvereins hier, doch als ich die Türe öffne, sehe ich überall die Mäuse verschwinden. Obwohl die Aussicht top ist, nicht unbedingt ideal. Ausserdem ist es noch lange hell, und ich beschliesse, noch ins Tal abzusteigen und unten auf dem Campingplatz zu übernachten. Den erreiche ich dann auch kurz nach sieben, mit brennenden Oberschenkeln vom langen, steilen Abstieg. Die Dörfer im Tal wirken alles andere als ausgestorben, überall sitzen die Leute auf der Straße, trinken was, unterhalten sich gestikulierend. Nach den ausgestorben Dörfchen und Almen in Slowenien und Österreich finde ich es sehr belebt hier. Auch auf dem Campingplatz herrscht noch Hochbetrieb in der Bar, doch bald verabschieden sich die Einheimischen und ich bleibe fast alleine zurück in meinem Zelt. Nur zwei Österreichischer, Vater und Sohn, teilen den Rasen mit mir und interessieren sich sehr für meine Reise. Ich genieße eine tolle Aussicht auf das Alpenglühen am Monte Sernio.
Der nächste Wandertag bringt mir Glück: die Straße über den Pass nach Paluzza ist nämlich wegen Bauarbeiten gesperrt. Das heißt, kein Verkehr, so ist es trotz Asphalt ganz erträglich. Einige Motorradfahrer ignorieren natürlich die Strassensperre, doch sie kommen mir alle nach kurzer Zeit wieder entgegen, und ich kann mir ein fieses Winken und Grinsen nicht verkneifen. Selber schuld! Die Baustelle ist dann zum Glück zu Fuss gut zu umgehen. Auf dem Abstieg komme ich durch viele winzige, typisch karnische Dörfer, die sehr schön erhalten, bzw. liebevoll restauriert wurden. Ich sehe auch ein paar interessante Wandgemälde.
In Paluzza lasse ich mich auf der Touri Info aufklären, wieso mich hier alle mit "Bundi!" begrüßen. Es ist friulanisch (oder furlanisch), und ist (vermutlich, es gibt da offenbar verschiedene Ansichten) mit dem rätoromanisch und ladinisch verwandt. Wie viele Sprachen gibt es hier eigentlich? Ich bin schon mit Italienisch ordentlich gefordert, aber immerhin kann ich mich darin radebrechend verständigen.
Ich erreiche mein Tagesziel Sutrio, ohne dass ich nass werde, und mit trockenen Füssen, trotz mächtiger Gewitterwolken am Himmel. Ein Highlight des Tages!
Am nächsten Tag folge ich einem Pilgerweg, der Via Della Fede, zumindest bis auf den Pass ins nächste Tal. Abwärts geht es auf der Straße, zum Glück ohne viel Verkehr. Da das Straßenlaufen manchmal recht langweilig ist, höre ich oft Podcasts oder Musik. Heute ist mein Weg jedoch noch nicht zu Ende, als ich im nächsten Tal ankomme, ich habe ein Zimmer in der Casa del Popolo in Prato Carnico gebucht und muss noch ein paar Kilometer ins nächste Tal, das Val Pesarina, laufen. Das wäre nicht weiter schlimm, doch die Nachmittagsgewitter interessiert es nicht, daß ich noch unterwegs bin. Anfangs bin ich ganz happy, als der erste Wolkenbruch niedergeht, denn mittlerweile ist es fast unerträglich heiss und schwül. Nach dem ersten Regen ist es nur noch schwül, ein kleiner Fortschritt.
Kurz vor dem Ziel beginnt es ernsthaft zu regnen, und so werde ich mal wieder ordentlich "vorgewaschen", bevor ich die warme Dusche erreiche. Irgendwie ist an diesem Abend der Wurm drin: erst laufe ich an der Unterkunft vorbei, weil die Adresse im Navi falsch eingespeist wurde - macht zwei extra Kilometer. Dann ist noch niemand da, ich muss warten. Glücklicherweise gibt's im kleinen Supermarkt ein Ichnusa Bier zu kaufen. Und als ich endlich mein Zimmer beziehen darf, ist es ein seltsames "Pseudo-Behindertenfreundlich-Zimmer" mit Aussicht an eine Hauswand. Man hat sich Mühe gegeben, mindestens 5 Alarmknöpfe im Zimmer verteilt einzubauen, und sie dann gut als Lichtschalter zu tarnen. Keine gehbehinderte Person könnte das Bad benutzen, doch ich schaffe es immerhin, unwissentlich dreimal den Alarm auszulösen. Das WLAN funktioniert nur mit italienischer Handynummer, und abends werde ich von einem Einheimischen zugetextet, bis mir die Ohren glühen. Ich bin froh, irgendwann leicht betrunken vom vielen Wein ins Bett zu fallen (nicht ohne nochmals versehentlich auf den Alarmknopf zu drücken). Es ist zum Glück nur noch eine lange Etappe auf der Straße, danach sollte ich in den Dolomiten ankommen und wieder Wanderwege zurück auf die Via Alpina finden!
Der Sonntag ist grau verhangen, es nieselt leicht. Wenn man 17 km auf der Straße zum nächsten Pass laufen muss, ist das nicht so schlimm - die Ausflügler bleiben eher daheim und es hat kaum Töfffahrer. Gegen Mittag beginnt es ersthaft zu regnen, und eine Beiz kommt wie gerufen. Ich genieße ein ausgezeichnetes Pastagericht, keine Ahnung was es ist. Es sind kleine Teigtaschen (aber keine Ravioli oder Tortellini) mit karamellisierten Birnen und noch anderen Dingen gefüllt, dazu eine cremige Käsesauce.
Gut gestärkt, lässt sich der Regen besser ertragen. Kurz vor dem Pass zweigt endlich der Wanderweg ab und meine Füsse jubilieren. Doch die Freude währt nur kurz, denn bald ist der Wanderweg komplett zerstört von Holzschlag-Arbeiten. Der Boden ist total zerwühlt, der Wald sieht aus, als wäre ein Orkan durchgefegt. Ich stapfe durch den Matsch, klettere mal wieder über umgestürzte Bäume. Den Weg finde ich nicht mehr, ich laufe jetzt nach Navi quer durch den Wald und Sumpf. Endlich erreiche ich die Passhöhe. Hier zweigt eine Forststraße ab, auf der ich ins nächste Tal laufe. Es herrscht Fahrverbot, da wir in einem Naturpark sind, und die Natur wirkt sehr wild.
Trotz der Schönheit dieses Tals schmerzen mir die Füsse, und als ich mich erneut verlaufe, weil die Straße wohl von einem Sturm weggespült wurde, und mein Navi den neuen Weg noch nicht kennt, könnte ich heulen. Es ist schon spät, alles ist nass, ich bin kaputt, aber hier herrscht Zeltverbot. Glücklicherweise taucht in dem Moment ein Trailrunner auf, der mir den Weg ins Dorf Campolongo erklärt. Dort gibt es einen Campingplatz. Endlich komme ich an, nach fast 30 km. Der Zeltplatz ist eine Enttäuschung, denn hier gibt es nur "eingesperrte Wohnwagen" (so nenne ich diese fest verbauten Dauercamper). Ich kriege eine Ecke neben dem Durchgangsweg auf Kies zugewiesen. Als ich gerade alles ausgepackt habe, um das Zelt aufzustellen, fängt es wieder an zu giessen. So ein Seich! Jetzt muss es schnell gehen, doch der Boden ist betonhart und beim Versuch, meine Heringe reinzuhämmern, zerreißt es mir meinen Regenrock der Länge nach. Nun bin ich wirklich sauer, schmeisse alles ins windschiefe Zelt und marschiere schnurstracks in die Campingbeiz. Doch meine Pechsträhne ist noch nicht zu Ende, denn es scheint hier Tradition zu sein, dass sich alle Familien des Dorfes, insbesondere jene mit hyperaktiven Kleinkindern, am Sonntagabend in dieser Pizzeria einen schönen Abend machen, und offensichtlich dürfen hier Kinder toben bis die Wände wackeln. Während die Bedienung total gelassen zwischen den tausenden von wuselnden und schreienden Gofen bedient, herrscht bei mir jetzt Alarmstufe dunkelrot, und ich bestelle erst mal einen halben Liter Rotwein. Der verdunstet erstaunlich schnell, aber irgendwann wird die Lage erträglich und die Pizza schmeckt vorzüglich.
Ausserdem schlafe ich danach herrlich, während der Regen leise und stetig aufs Zeltdach tröpfelt. Ich muss gestehen, auch wenn der Regen beim Wandern langsam nervt, es gibt für mich fast kein schöneres und entspannenderes Geräusch auf Erden, als Regen auf Zeltdach. Letztes Jahr, als ich so viel Stress bei der Arbeit hatte und nicht mehr gut schlafen konnte, habe ich mir eine App heruntergeladen, welche das Geräusch zum Einschlafen imitiert. Es konkurriert eigentlich nur mit Grillen zirpen und Katzen schnurren um den ersten Platz in der Kategorie "Lieblingsgeräusche". Von da her nimmt der anstrengende Tag doch noch ein harmonisches Ende.
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