Direkt zum Hauptbereich

Der Norden von La Palma




Wanderlust 2021, Woche 3: 
Wir starten am Sonntagmorgen aus Los Llanos in die nördliche Hälfte der Insel La Palma. Gleich zu Beginn geht es ans Eingemachte: wir müssen durch den Barranco de las Angustias, die "Schlucht der Ängste", die von der mächtigen Caldera de Taburiente ins Meer führt und sich hier unten in Los Llanos immer noch über 500 Meter tief eingegraben hat. Es herrscht ausserdem ein Mordsverkehr, ganz anders als bisher. Uns scheint, als wäre die gesamte Bevölkerung der kleinen Insel (immerhin 100'000 Einwohner) mit ihrem grössten Stolz, dem Pickup-Truck, unterwegs, und immer im Pulk von mindestens drei röhrenden, stinkenden Karren. Wie es sich gehört, sind die Strassen durch die Barranca eng, steil und unübersichtlich. "Schlucht der Ängste" fürwahr, vor allem für Radfahrer an einem Sonntag. Denn wir können uns dieses Verkehrs-Phänomen nur mit einem religiöses Motiv erklären: jeweils am dritten Sonntag im Januar muss alles, was rollt, dreimal die Insel im Uhrzeigersinn umrunden, sonst geht sie unter. Oder so ähnlich. Wir spinnen uns die tollsten Verschwörungstheorien zusammen, während wir durch die Schlucht schwitzen. Der Barranco ist eindrücklich, doch wir sind froh, als wir beim Mirador del Time endlich drüber sind. 


Barranca de las Angustias


Von nun an geht es etwas gemächlicher weiter. Als wir in einer Bar einen Kaffee trinken, erfahren wir auch den wahren Grund für die Autokolonne: es ist Wochenmarkt in Punta Gorda. Ausserdem hat es Schnee auf dem Roque de los Muchachos, dem höchsten Berg von La Palma - bei dem schönen Wetter eine Gelegenheit zu einem Picknick mit Aussicht auf weisse Gipfel für die Palmeros. Nun, irgendwie hat uns unsere Theorie besser gefallen.




Nach einer Weile biegen wir auf eine Nebenstrasse ab, und sofort ist es wieder ruhig und beschaulich, wir fahren durchs Bergland, es hat ein paar einsame Casa rural, die sehr hübsch ausgebaut sind. Wir haben uns heute ebenfalls so ein Casa rural reserviert über Airbnb, es liegt "Irgendwo im Nirgendwo" und die Anweisungen der Besitzerin, wie wir dahinkommen, tönen abenteuerlich (sie hat uns mindestens 10 Sprachnachrichten und Fotos geschickt). Sie behält recht, hier brauche ich zum ersten und einzigen Mal den Turbo-Modus, um die steile Piste hochzukommen. Das "Sunset and Stars" stone house liegt mitten in einem Wald, der erst letzten Sommer abgebrannt ist. Was auf den ersten Blick trist wirkt, ist beim zweiten Anblick faszinierend: hier sehen wir, wie die kanarische Fichte nach dem Feuer wieder ausschlägt, und wie aus der schwarzen Erde saftig frisches Grün hervorwuchert. Auch blühen bereits die ersten Mandelblüten. Das Steinhäuschen ist fantastisch gelegen, total ab vom Schuss (aber mit Netflix). Gal, die Vermieterin, trifft uns kurz für eine Einweisung und erklärt uns die wichtigsten Dinge ("ihr müsst einfach auf den Netflix-Button drücken"). Sie ist nach 10 Reisejahren hier hängengeblieben, hat mittlerweile zwei wilde Kinder und ist auf gutem Weg zur Selbstversorgung auf dem eigenen Stück Land - nur leider hat das Feuer ihr Haus und sämtlichen Besitz zerstört. Ein Glück, wurde das Airbnb verschont, so haben sie noch ein Einkommen. Sie nimmt das alles erstaunlich gelassen und schenkt uns noch zwei Bier zum Abschied. 




Abends kochen wir gemütlich unsere Pasta, geniessen zum ersten Mal in unserem Leben Netflix (natürlich sind wir total überfordert mit dem Netflix-Button), und dazu einen perfekten Sternenhimmel. Auf den Gipfeln von La Palmas höchsten Bergen stehen übrigens zahlreiche international bekannte Sternwarten, da man hier einen sehr ungetrübten Blick auf die Sterne hat, fast ohne Lichtverschmutzung. Und natürlich kommt noch ein verschmustes und hyperaktives Kätzchen angezottelt, weiss mit stahlblauen Augen - es kriegt den Namen "White Walker". Nachts wird es sehr kalt, wir kuscheln uns unter alle Jacken und Decken, die wir haben - das Thermometer misst nur noch knapp 4 Grad.




Am Montag wollten wir eigentlich auf den Roque de Los Muchachos auf 2426 m fahren, als Tagestour und ohne schweres Gepäck. Doch am Abzweiger steht "Gesperrt", und wir sind uns nicht sicher, ob wir mit den Fahrrädern durchkommen. Ausserdem hat der Wetterbericht dort oben gerade mal 1 Grad mit Chancen auf Nieselwolken. Dem Graus-Wetter wollten wir ja eigentlich entfliehen, also lassen wir das und sausen stattdessen an die wilde Nordwestküste runter nach Garafia. Auf dem Weg dorthin müssen wir durch unzählige Barrancos durch, zum Glück keines so tief wie der Barranco de las Angustias. 




In den steilen Hängen dieser Barrancos befinden sich zahlreiche Höhlen, die teilweise zu richtigen Wohnungen ausgebaut sind. Früher wohnten dort die Ureinwohner von La Palma, später nutzte man die Höhlen als Kühlraum und Zweitwohnung im Sommer, wenn es auf den Bergrücken zu heiss wurde. 




In jüngster Zeit wohnen hier aber ein paar moderne Höhlenmenschen. Erst waren es die Hippies, jetzt sind es einfach Aussteiger aus aller Welt, die hier entweder in Höhlen oder in kleinen Fincas leben. Ein Höhlensystem erblicken wir von oben, welches ganz gediegen aussieht - mit Solarpanel, Sonnensegel, und einem splitternackten Höhlenbewohner mit roter Pudelmütze, der durch seinen Kräutergarten spaziert. Welche Art von Kraut er anpflanzt, kann ich nicht erkennen aus der Ferne, aber irgendetwas sagt mir, dass es keine Pfefferminze ist. 


Suchbild: finde die rote Pudelmütze


In Santo Domingo de Garafia essen wir in der einzigen Bar des Dorfes zu mittag. Die hiesigen Höhlenmänner sind offensichtlich schon seit Stunden versammelt beim Biertrinken. Ich bestelle mir den frittierten Fisch und bin kurz entsetzt, als die Bardame das Ausstellungsmenü, welches sicher bereits seit Stunden in der warmen Auslage liegt, nimmt und für mich in die Mikrowelle schmeisst (es schmeckt dann aber ganz gut). Sven ist ganz begeistert von der Atmosphäre in Garafia und ich fürchte schon, er will gleich in die nächste Höhle ziehen. Währenddessen halte ich Ausschau nach den Höhlenfrauen, denn hier sitzen nur wilde Kerle rum. Auf dem Rückweg fahren wir durch sehr abgelegene Dörfer mit bunt bemalten Häusern und hübschen Gärten - vermutlich sitzen die wilden Cave Girls hier, mit Solardusche und Heizung, und lachen über die Kerle in der Höhle. Abends kuscheln wir uns mit den Daunenjacken auf die Couch in unserem Steinhäuschen, denn es wird wieder bitterkalt. Ich frage mich, wie es wohl dem Höhlenmensch mit der roten Pudelmütze geht.



Am Dienstag umrunden wir die Nordspitze der Insel. Es ist bewölkt, doch manchmal lichten sich die Wolken kurz, und wir erblicken weit, weit über uns die weiss verschneiten Gipfel des Roque de los Muchachos und der Fuente Nueva, beide über 2300 Meter hoch. Was für ein fantastischer Anblick!


Blick auf den Roque de los Muchachos


Der Verkehr ist zum Glück wieder total eingebrochen, und so ist es nicht weiter tragisch, dass die Hauptachse gesperrt ist und der gesamte "Schwerverkehr" auf die schmale, alte Bergstrasse ausweichen muss. Es kommt auch so nur alle 5 Minuten ein Auto. Die alte Strasse nach Barlovento ist ein wahres Juwel. Sie führt fast ununterbrochen durch dichten Lorbeerwald und schraubt sich von einem dunkelgrün verwachsenen Barranco ins nächste. Dazu ist es jetzt richtig neblig, es nieselt fast - total mystische Stimmung! Der Lorbeerwald ist ein Relikt aus dem Tertiär - vor der letzten Eiszeit war er in ganz Europa weit verbreitet. Mit der Eiszeit wanderte er nach Süden, bis nach Nordafrika, bevor er dort von der Sahara verschluckt wurde. Nur auf den Azoren, Madeira und den Kanaren hat er überlebt, hier vor allem auf La Palma und La Gomera. Er braucht viel Feuchtigkeit und ist ein richtiger Nebelwald mit Moosen, Flechten und Lianen - überall tropft es. Wir geniessen die Fahrt, obwohl es sehr kalt wird und uns fast die Finger abfrieren. 




Kurz vor Barlovento fahren wir auch noch ein paar abenteuerliche, stockdunkle Tunnels. Gut dass wir einigermassen vernünftiges Licht am Velo haben und die tiefen Löcher im Asphalt sehen können. Zur Belohnung werden wir am Ausgang des Tunnels noch geduscht, als ein kleiner Wasserfall sich über die Strasse ergiesst.




Auf der anderen Seite angekommen, entdecken wir eine grün überwachsene Schlucht, in die ein abenteuerlicher Weg ein kurzes Stück hineinführt - das Abenteuer ruft, und wir rutschen und stolpern ein paar Meter hinein. Fantastisch!




Wir haben aber noch nicht genug, nach einem Cafe con Leche stürzen wir uns ins nächste Abenteuer, denn Sven hat eine "Abkürzung" gefunden, die uns auf direktem Weg nach San Andres an die Küste führen soll. Wir sind schon etwas stutzig, dass die Strasse im 90-Grad-Winkel zu den Höhenlinien verläuft, aber die Strasse ist geteert, also wird das schon gut gehen. Wir stellen bald fest, dass es sich um eine Cuesta handelt, vor denen uns Susanne vom Bike-Verleih Su Bici bereits gewarnt hat - diese führen nämlich immer gerade den Berg runter, egal wie steil. Unsere Bremsen jaulen schon bald, und wir müssen regelmässig pausieren, um unsere verkrampften Bremsfinger zu massieren und die Bremsscheiben abzukühlen. Svens Tacho zeigt mehrfach über 25% Steigung an und wir hoffen einfach nur, dass es nicht noch steiler wird. Wohlgemerkt, es handelt sich hier nicht um kurze Abschnitte von ein paar Metern, das geht kilometerweit so, und auch mitten durch die Dörfer durch. Wir sind erleichtert, als wir endlich wieder auf die Hauptstrasse kommen, die gnädigerweise in Serpentinen den Berg runterfährt. 




In Charco Azul haben wir uns nochmals für 2 Nächte in einer Ferienwohnung (Apartamentos Miriam) einquartiert und geniessen am Abend ein gigantisches Fisch- und Meeresfrüchte-Dinner für zwei. Es wird ein ziemlich peinliches Dinner, da wir zwei Banausen keine Ahnung haben, welchen Fisch wir da verzehren und auch kaum wissen, wie man ihn anständig auseinandernimmt. Am Schluss sieht es auf dem Teller aus wie auf einem Schlachtfeld, und sogar die Streunerkatzen laufen mit verächtlicher Miene weg ob unserer Unfähigkeit, ihnen ein paar leckere und essbare Happen übrig zu lassen. 


Entspannen in Charco Azul


Am Mittwoch machen wir eine Ausflug nach Los Tilos, einem Barranco, in welches man hineinwandern kann, mit Wasserfällen, Riesenfarnen und Lorbeerwald. Im Infozentrum erfahren wir so einiges über den Lorbeerwald und seine Bewohner. Danach ziehen wir die Windjacken an, denn nun geht es unter tropfenden Felsen hindurch zu einem Wasserfall, dann immer weiter in den Barranco hinein, welcher sich zu einer schmalen Schlucht verengt. Bald klettern wir über Leitern und glitschige Felsen, und kommen aus dem Fotografieren und Staunen nicht mehr heraus. Ein wunderschöner Ort, wir fühlen uns wie in Jurassic Park. 


Los Tilos





Auf dem Rückweg stärken wir uns im Restaurant mit ein paar kanarischen Spezialitäten, unter anderem essen wir hier das erste Mal "Gofio", eine geröstete Getreide-Mais-Mischung, welche zu Suppen, Desserts und allem Möglichen verarbeitet wird. Dazu gibt es einen grünen Salat mit Früchten, gegrillten Ziegenkäse und natürlich Papas Arrugadas (die Schrumpelkartoffeln gibt es wirklich immer und überall hier). 


Der Donnerstag ist leider bereits der letzte Fahrrad-Tag, denn am Abend muss ich das liebgewonnene E-Bike zurückgeben. Wir radeln also noch die letzte Etappe bis Santa Cruz, die wir etwas unterschätzen - es wellt ordentlich, und es hat wieder mehr Schwerverkehr sowie ein paar Tunnels. Einige davon lassen sich zum Glück leicht umfahren. Unterwegs besichtigen wir noch ein Museum zu den Ureinwohnern von La Palma, den Benahoaritas, die vermutlich von den Berbern in Afrika abstammen und etwa 1000 vor Christus nach La Palma kamen (so genau weiss man das nicht). Diese lebten als erste in den Höhlen der Barrancos. 




Am Nachmittag erreichen wir Santa Cruz und endlich ist das Wetter so warm, dass uns nach einem Glacé gelüstet, und Sven stürzte sich sogar noch ins Meer. Diesmal haben wir eine superzentrale Ferienwohnung, Apartamentos La Fuente. Am Abend fahren wir wieder in Los Cancajos ein, wo wir die Inselumrundung abschliessen und ich mein super Mietbike schweren Herzens zurückgebe. In den letzten Tagen hatte es sich sogar noch den Spitznamen "Monsterchen" erarbeitet, weil es so riesig ist (29-Zoll-Räder) und ich ein paarmal fast hingefallen wäre damit (ok, einmal bin ich hingefallen, aber wenigstens weich gelandet). Wir sind 320 km und ca. 8500 Höhenmeter gefahren, nicht schlecht für "Urlaub". Mit der grossen Batterie bin ich jeden Tag gut über die Runden gekommen, wir schafften bis zu 1500 Höhenmeter an einem Tag. 




Abends gehen wir in Santa Cruz nochmals richtig fett Meeresfrüchte essen und unterhalten uns prima mit dem Kellner Fernando, der aus Venezuela hierher emigriert ist, weil er in seinem Heimatland keine Lebensgrundlage mehr findet (wenn ich ihn richtig verstanden habe, verdiente er als irgend ein Fachspezialist für Erdöl nur 15 Euro im Monat, bräuchte aber 300 Euro, um sich und seine Familie durchzubringen). Es ist schon absurd: noch vor weniger als 50 Jahren emigrierten die Kanaren nach Venezuela, weil es sich dort gut leben liess - jetzt kommen sie wieder zurück. Weil es uns letztes Mal so gut geschmeckt hat, bestellen wir uns noch zwei Frangelitos - und erhalten diesmal zwei Copas (das ist ein richtig grosses Glas, im Gegensatz zum Chupito). Na gut, wir sparen uns das Dessert. Fernando bringt uns noch zwei Ronmiel, weil er uns so gut mag, und wir torkeln entsprechend angesäuselt aus dem Restaurant. Zur "Verdauung" machen wir noch einen Spaziergang durch das nächtliche Santa Cruz, wobei einige sehr kunstvolle Fotografien entstehen, für die ich ziemlich sicher über den Boden gerobbt bin. 




Der Freitag ist unser letzter gemeinsamer Ferientag, bevor Sven nachhause fliegt. Jetzt wollen wir es doch noch versuchen mit dem Roque de los Muchachos. Ich miete mir kurzerhand ein Auto für einen Tag und mache mal wieder den Bike-Support für Sven. Von Santa Cruz führt eine richtig gute Bergstrasse hoch bis auf den Roque (die ganzen Astronomen müssen ja zu ihren Sternwarten kommen). Sven ist voll motiviert, und ich komme mal wieder nicht dazu, mehr als ein paar Seiten in meinem Buch zu lesen, bevor er schon wieder auftaucht. 




Leider ist bei 1900 Metern Schluss, die Strasse ist immer noch gesperrt. Wir lassen also Auto und Rad stehen und wandern noch zu Fuss auf den nächsten, erreichbaren Gipfel, den Pico de la Nieve, immerhin auch 2232 Meter hoch. Auch er sitzt am Rand der Caldera de Taburiente, und von dort oben geniessen wir nochmals einen fantastischen Rundblick - und eine wunderbare Aussicht aufs Wolkenmeer weit unter uns. Von hier aus können wir auch die Inseln El Hierro, La Gomera und Teneriffa (gut erkennbar am 3718 m hohen Teide) sehen. Dann geniesst Sven eine tolle Abfahrt, und abends essen wir leckere Burger in der Altstadt von Santa Cruz. 








Am Samstagmorgen schlendern wir noch zum Mercadillo von Santa Cruz und kaufen ein paar Souvenirs, danach ist es für Sven schon bald Zeit, zum Flughafen aufzubrechen. Der Abschied fällt mir schwer, obwohl ich mich natürlich freue, dass ich weiterhin in der Wärme bleiben kann. Den Nachmittag verbringe ich am (und einmal kurz sogar im) Meer, und bin etwas wehmütig, als das Edelweiss-Flugzeug in grossem Bogen über dem Meer entschwindet (diesmal leider nicht mit Regenbogen). Den Abend verbringe ich ebenfalls mit Packen, denn auch meine Zeit auf La Palma ist vorerst um - am Tag darauf fahre ich nach La Gomera und werde eine neue Insel erkunden, diesmal zu Fuss. 



Kommentare