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Durchhänger oder Kulturschock? Bergiges Zentralanatolien

Coast to coast
Unser früher Start in Şile am Schwarzen Meer erweist sich als Segen, denn bereits morgens um zehn ist es sehr heiss. Und wir müssen etwa 1000 Hügel bezwingen, um wieder ans Marmarameer zu kommen. Die Steigungen sind gnadenlos, zwar meist kurz, doch oben angekommen sieht man gleich wieder den nächsten Hügel. Zum Glück führt die Straße oft durch den Wald, so dass wir manchmal im Schatten fahren können. In den Dörfern, die wir durchqueren, sieht man fast nur Männer auf den Strassen, meist in grösseren Gruppen. Sie starren mich an wie ein Mondkalb. Zwar bin ich dies schon etwas gewohnt von Mexiko und Guatemala, doch hier ist das Starren viel penetranter. Es sind auch massenhaft junge Typen mit ihren gepimpten Autos unterwegs, mit röhrenden Auspuffen, wummernden Stereoanlagen und voller grölenden Testosteronbomben, die hupend und aus dem Fenster brüllend an mir vorbeidonnern. Meist auch noch im Konvoi, es ist mir ein Rätsel, woher die Typen alle kommen. Jedenfalls machen sie mich ziemlich aggressiv. Zusammen mit der Hitze, der elenden Hügelei und dem Gegenwind vergeht mir ordentlich die Lust an der Radelei. Der Tag zieht sich endlos dahin, mir scheint, ich schiebe fast nur noch. Endlich, endlich erreichen wir den letzten Höhenzug und blicken auf Izmit am Marmarameer. Zwei Meere an einem Tag, das ist schon was! Die steile Abfahrt (18%) in die Stadt bringt unsere Bremsen ordentlich zum Glühen. Am nächsten Tag geht es weiter nach Akyazi, gemäß unserer Karte eine "Panoramaroute". Das Panorama besteht jedoch vor allem aus einer autobahnähnlichen Rennstrecke, durch Industrie und charmefreie Städte. Theoretisch sollten wir entlang eines Sees fahren, den wir jedoch nur erahnen können. Als wir uns auf einem Rastplatz ausruhen wollen, werden wir um 15 Lira Eintritt gebeten (ca. 7.50 Fr.). Nur fürs Benutzen der Picknicktische!? Wir ziehen frustriert wieder ab. Irgendwie finden wir dann doch noch einen Zugang zum See und etwas Erholung vom Verkehr. Ein kühlendes Bad, ein bisschen Nutella, und schon läuft es wieder.


Kulturkrise
Niemand spricht mit mir. So kommt es mir jedenfalls vor. Bereits am ersten Tag in der Türkei ist mir aufgefallen, dass nur Sven angesprochen wird. Er dafür andauernd, von Hinz und Kunz, aber nur von Männern. Vor allem ältere Herren begrüßen Sven oft mit so viel Herzlichkeit, als wäre er ein alter Freund, den sie lange nicht gesehen haben. Mir schauen sie kaum in die Augen und begrüßen mich so nebenbei. Oft werden wir zum Çay (Tee) und mehr eingeladen. Tee und Süsses bekomme ich zwar genauso viel wie Sven, aber kaum Aufmerksamkeit. Ich weiss, ich weiss - es ist eine andere Kultur, und ich sollte mich bei den Türken auf den Knien bedanken, dass sie nicht so lästig sind wie die Marokkaner. Dass es in ihrer Kultur Zuvorkommenheit und Achtung bedeutet, mich zurückhaltend zu behandeln. Und dass das Pfeifen und die blöden Sprüche zum Glück die Ausnahme bilden. Trotzdem schmerzt es, so zum Anhängsel degradiert zu werden, ich fühle mich nicht für voll genommen. Natürlich gibt es Ausnahmen, doch die meisten Leute, die mich "normal" behandeln, haben im Ausland gelebt und/oder kommen aus recht liberalen Kreisen. Meist sind es junge Leute.
Auch in Akyazi werden wir wieder mal "von der Strasse gefangen", diesmal von Orhan, einem Bäckereibesitzer. Bevor wir recht wissen, wie uns geschieht, sitzen wir am Tisch, trinken Tee und werden zum Stadtgespräch. Orhan mästet uns mit Leckereien aus seiner traditionellen osmanischen Bäckerei, derweil er auf Sven einredet. Auf türkisch, natürlich. Obwohl wir fleißig lernen, reicht unser Vokabular einfach nicht für ein Gespräch, wir können grade so nach dem Weg, dem Preis oder dem Menü fragen. Trotzdem Sven immer mal wieder tapfer ein "amlamadum" (verstehe nicht) einwirft, gibt Orhan nicht auf. Er telefoniert umher, bis er einen Neffen aufgetrieben hat, der deutsch spricht. Dank den tausenden von ehemaligen Gastarbeitern in Deutschland findet sich in fast jedem Kaff der Türkei jemand, der übersetzen kann. In der Zwischenzeit stehen schon ein dutzend Männer um uns, Sven beantwortet die immer gleichen Fragen (Woher kommt ihr? Wohin? Wie lange schon? Wie bitte, mit dem Fahrrad? Habt ihr denn kein Auto? Verheiratet, Kinder? Wie, keine Kinder? Undsoweiter...), während ich mein Schattendasein friste und heimlich Svens Süßspeise verdrücke (na gut, nein, hab ich nicht, aber ich war nah dran). Als dann der Neffe eintrifft und übersetzt, wird es einfacher. Sie verstehen kaum, warum wir in Akyazi halt machen, das sei doch nichts besonderes. Wir finden, es ist schön da, eine hübsche Kleinstadt. Ob wir nicht noch 20 km weiterfahren wollen, da gäbe es ein Thermalbad mit schickem Hotel. Nein, danke, wir sind müde und schick mögen wir nicht so. Wir dürfen unsere Velos bei ihnen einschließen, bekommen gratis Brot á gogo und werden im Hotel, das ebenfalls dem Bäckerclan gehört, untergebracht.
So wunderbar wie die türkische Gastfreundschaft ist, so überwältigend ist sie manchmal auch. Oft ist es schwer zu erklären, dass man gerne seine Ruhe hätte, dass man nicht immer Lust auf Gesellschaft hat, dass man ihre Sprache wirklich nicht versteht. Letzteres ist für mich der Knackpunkt. Zwar sehe ich auch türkische Frauen auf den Strassen, doch mehr als ein Gruss liegt kaum drin. Auch wenn ich feststelle, dass sie mich neugierig betrachten, so sprechen sie mich doch nie an, entweder aus Scheu, oder weil sie befürchten, dass sie mich nicht verstehen. Mit meinen zehn Standardsätzen kann ich leider auch keine Unterhaltung mit ihnen starten. In Kuzuluk, dem Thermalbad, wo wir am nächsten Tag zu Mittag essen, spricht mich erstmals ein junges Mädchen an. Zwar trägt sie ein Kopftuch, wie 99% der türkischen Frauen auf dem Land, doch ihres ist mit Totenköpfen bedruckt - sie ist mir auf Anhieb sympatisch. Obwohl sie mich ausfragt wie eine Weltmeisterin, muss ich frustriert das Handtuch werfen - ich verstehe nur Bahnhof. Immerhin kann ich ihr mitteilen, dass ich ihre Totenköpfe mag, und sie grinst. Ansonsten gibt's nicht viel zu Lachen in Kuzuluk. Es scheint ein sehr konservativer Ort zu sein, viele Frauen tragen bodenlange schwarze Mäntel (bei ca 35 Grad im Schatten) und sind bis zur Nasenspitze verhüllt. Nicht einmal im Bad ziehen sie sich richtig aus, obwohl Männer und Frauen getrennt baden. Die meisten Frauen tragen knielange schwarze Ganzkörperanzüge, einige sogar Mützen. Offenbar kann auch kaum eine türkische Frau schwimmen, wobei auch viele Männer nicht schwimmen können. Dies erfahren wir von Halil, einem weltgewandten Türken, der prima englisch spricht, und mit dem wir (ich auch!) uns prima unterhalten. Er bestätigt auch meinen Verdacht, dass ich grundsätzlich nicht erwarten solle, von einem türkischen Mann angesprochen zu werden. Ich finde dies ziemlich deprimierende Aussichten. Zusätzlich fahren wir nun in die Berge von Zentralanatolien, was meine Laune nicht verbessert. Eigentlich, wenn man es genau bedacht, besteht die ganze Türkei nur aus Bergen. Obwohl wir einen schönen Zeltplatz am Fluss finden und ich am nächsten Morgen meinen 4000. Kilometer fahre, ist meine Stimmung auf dem Nullpunkt. Mit Mühe und Not, Quengeln und Tränen schaffe ich es über die Berge nach Mudurnu, wo wir einen Pausentag einlegen. Langsam verändert sich die Vegetation und das Klima. Vom schwülen Laubwald gelangen wir in halbtrockene Täler mit knorrigen Kiefern.


Ein türkisches Bad
Mudurnu ist ein spezieller Ort. Einerseits ist es ein altes Dorf mit einem gut erhaltenen Zentrum, schönen traditionellen Holzhäusern, einer uralten Moschee mit Hamam, sowie einer Reihe traditioneller osmanischer Gasthäuser, wo wir auch unterkommen. Andererseits scheint es viel weniger konservativ zu sein, die Frauen sind weniger verhüllt. Ich fühle mich gleich viel wohler. Die Besitzer des Gasthauses sind sehr freundlich. Wir essen lauter leckere Sachen in diesem Dorf und treffen nette Leute. Doch der Hamam ist das Top Ereignis hier. Er ist so alt wie die Moschee, aus dem 14. Jh. Der Dameneingang ist geschlossen, also frage ich schüchtern beim Herreneingang, ob mich den drüben jemand reinlassen könnte. Ich soll einfach hier reinkommen, meint Muzzafer, der Einlasser. Ich bin verdutzt, aber so wie's aussieht, sind wir die einzigen Gäste. Er führt mich durch enge, irrgartenähnliche Marmorgänge (irgendwo stossen wir auf Sven) in den Schwitzraum. Wir sind baff ob den uralten, reich verzierten Kuppeln. Zwar riecht es etwas modrig, aber es ist sauber, das Ambiente unbezahlbar. Ob wir eine traditionelle Massage möchten? Yes, please! Ich bin etwas überrascht, als Muzzafer, der hier scheinbar Mädchen für alles ist, meine Massage übernimmt (ich bin nackt! In der Türkei! Im Männerhamam!?). Aber er macht es sehr professionell, und ich werde geknetet, geschrubbt und eingeschäumt, bis auch die letzten toten Gewebezellen Reissaus nehmen, und ich mich anfühle wie ein Babypopo. Im nachhinein stellen wir fest, dass Svens Massage etwas kürzer und nicht ganz so gründlich ausfiel, also nehme ich an, der Muzzafer hat meine Massage wohl recht ausgekostet :-). Jedenfalls schweben wir beide sozusagen aus dem Hamam, prima entspannt.


Am nächsten Morgen nehme ich den Bus über den Pass, um meine gute Laune zu bewahren. Sven radelt, und wir treffen uns in der nächsten Stadt wieder. Auch hier haben wir innert kürzester Zeit viele Fans.


Nach einer gemütlichen Siesta an einem kühlen Bach fahren wir weiter. Die Landschaft wird plötzlich sehr wüstenhaft, mit roter Erde und farbigen Bergen. Fast fühle ich mich wie in Utah. Zwar gibt es kaum Schatten, doch ich bin begeistert von der Gegend, die wir durchfahren. Hinter jedem Hügel verzaubert mich die Aussicht von Neuem. Die Felsen leuchten in allen Farben.


Ein spontanes Grillfest
Da es bereits spät ist, wollen wir an einem Gemüsestand am Strassenrand "nur schell" zwei Tomaten für unser Abendessen kaufen und uns dann eine Zeltplatz suchen. Daraus wird aber nix, den Kemal, der Gemüsebauer, insistiert, dass wir uns erst mal hinsetzen und "unterhalten" (siehe oben :-). Dann packt er uns noch 2 kg Gemüse und Früchte ein (Hilfe, wohin damit?). Geld will er keins, Widerstand ist zwecklos. Dafür sollen wir im nächsten Dorf bei seinem Schwager vorbeischauen zu einem Tee, der könne deutsch und sei telefonisch bereits informiert. Mehmet erwartet uns tatsächlich schon an der Strasse und führt uns zu seinem Hof, wo wir seiner Frau (die ebenfalls ein bisschen deutsch spricht) und der restlichen Großfamilie vorgestellt werden. Mehmet ist pensioniert und lebt eigentlich in Duisburg, verbringt aber mehrere Monate pro Jahr in der Türkei. Seine Familie hat hier Tomatenplantagen, sowie weitere Gemüse- und Obstsorten. Wir werden zum Grillen eingeladen und dürfen auf dem luftigen Dachboden schlafen. Ich geniesse den Abend, den Mehmet unterhält sich auch mit mir, und dank seiner Übersetzerfähigkeiten kann ich mich auch mit seiner Frau und Schwestern unterhalten. Und die vielen Büsis hier sind megaherzig!


So brechen wir am nächsten Morgen, gestärkt mit einem fantastischen Frühstück und beladen mit Salatzutaten für eine Kompanie, wieder auf in die wüstenartige Landschaft. Zwei Pässe und 150 km Radelei trennen uns noch von Ankara, der Hauptstadt der Türkei. Schon am ersten Brunnen treffen wir 4 französische Radler, die ebenfalls auf dem Weg nach Ankara sind. Wir haben in etwa dasselbe Tempo und treffen uns zur Mittagspause wieder. Wir sponsern den Salat, sie das Bier:-). Es tut gut, sich mal wieder mit andern Radreisenden auszutauschen. Celine und Benoit tourten durch Westafrika und sind momentan grad mit Radelgästen (Bruder und Cousin) unterwegs durch die Türkei. Sie haben interessante Geschichten erlebt!


Die Polizei ist nicht Freund und Helfer
Abends erreichen wir den Fuß der letzten Berge vor der Hauptstadt. Wir mögen den Aufstieg nicht mehr in Angriff nehmen und fragen daher, ob wir bei einer Moschee zelten dürfen. Mehrere Türken haben uns gesagt, dies sei erlaubt und sicher. Wir fragen natürlich trotzdem um Erlaubnis, und mehrere Leute, Nachbarn, betende Gläubige, sogar der Muezzin, heissen uns willkommen, es sei kein Problem. Da es schon fast dunkel ist, stellen wir das Zelt auf und beginnen mit Kochen. Das Gemüse ist fertig geschnippelt, der Bulgur fast gar, da taucht plötzlich die Polizei auf und meint, wir können hier nicht zelten. Wir verweisen auf die Erlaubnis, und auch die älteren Herren, mit denen wir zuvor gesprochen haben, kommen herbei, uns zu verteidigen. Doch der aufgeblasene junge Gockel von Möchtegern-Sheriff lässt nicht locker, wir müssen weg. Wir sollen 4 km weiter den Berg hochfahren, da gäbe es einen Picknickplatz, wo wir zelten könnten. Wir haben die steile Rampe gesehen, und mittlerweile ist es stockfinster, dafür würden wir fast eine Stunde brauchen. Wir sind todmüde, hungrig und verstimmt: was soll diese Schikane? Ihre Gründe sind fadenscheinig, mal ists die Moschee, dann die wilden Hunde, dann die Schlangen... (wir haben noch nicht mal ne Blindschleiche gesehen). Schließlich erbarmt sich Olstein, einer der späten Moscheebesucher, und nimmt uns mit zu sich nachhause. Er versteht auch nicht, warum die Polizei so reagiert hat. Jedenfalls rettet er uns aus einer sehr misslichen Lage, und er kann zum Glück etwas deutsch.

Am nächsten Morgen heißt es noch ein letztes Mal Zähne zusammenbeissen, denn es geht gleich über zwei Pässe. Doch auch das ist irgendwann geschafft (danke, Nutella!) und es folgt die Belohnung: Abfahrt bis Ankara! Dafür müssen wir uns die letzten 30 km über verpestete und stark befahrene Schnellstrassen kämpfen. Bei 5 Mio. Einwohnern ja kein Wunder. Wir belohnen uns dafür mit einem Altstadthotel mit Panoramabalkon und ein paar Ruhetagen.




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